Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
Meuchelmörder? Nie und nimmer.
Viel eher kam ihr da jemand anderes in den Sinn. Jemand, der nicht nur dazu, sondern
schlichtweg zu allem fähig war.
Der vor nichts, aber auch gar nichts zurückzuschrecken
schien.
Tief in Gedanken, nahm Melusine von der Kälte
erst Notiz, als sie in die Spitalgasse einbog, ihren Schritt beschleunigte und in
Richtung Siebersturm davonhastete. Um diese Tageszeit war kein Mensch mehr unterwegs,
von ehrbaren Bürgern, die dies als unschicklich empfanden, gar nicht zu reden. Angst
hatte sie deswegen keine, höchstens vor dem Nachtwächter, der um diese Zeit seine
Runden machte. Ein Aufeinandertreffen mit ihm würde eine Menge Fragen, noch mehr
Ermahnungen und im schlimmsten Falle eine saftige Geldbuße nach sich ziehen. Eine
Begegnung, die es unter allen Umständen zu vermeiden galt.
Zitternd vor Kälte hielt Melusine unter dem
Bogen des Siebersturmes inne und schlang den Umhang, den sie über ihrem Wollkleid
trug, so eng wie möglich um die Schultern. Der Disput mit dem Spitalmeister war
vergessen, hinweggefegt von den wie im Sturmwind dahinwirbelnden Gedanken, die sie
in diesem Moment befielen. Ihr Vater – ein Meuchelmörder? Auf einmal war sie sich
da nicht mehr so sicher. Hatte die Frau, deren Namen nicht wert war, genannt zu
werden, ihn nicht tagtäglich gedemütigt, vor versammelter Kundschaft zum Narren
gehalten, in den Augen seiner Mitbürger zum Hagestolz degradiert? Hatte sie ihm
das Leben, in dem er es weit gebracht hatte, nicht zur Hölle gemacht? Aufseufzend
vor Kummer setzte sich Melusine wieder in Bewegung, wich einem streunenden Straßenköter
und einem Haufen Eselsmist gerade noch aus und trat in die Schmiedegasse hinaus,
von wo aus sie ihr Weg zur Johanniskirche führte, an der sie abermals abbog und
die kurze Distanz, welche sie vom heimischen Pfäffleinsgäßchen trennte, im Laufschritt
zurücklegte.
Da war etwas, das sie zur Eile antrieb, etwas,
das es noch in dieser Nacht zu erledigen galt.
Ganz gleich, wer hier von wem und aus welchem
Grunde gemeuchelt worden war.
18
Rathaus, Ende der vierten Nachtstunde │ [21.00 h]
»Sag mal, was ist denn in dich gefahren?«, rief Berengar von Gamburg
schon von Weitem aus, als er den menschenleeren Marktplatz überquerte und eiligen
Schrittes auf das Rathaus zuhielt, vorbei an den Verkaufsbuden, vor denen sich tagsüber
die Kunden drängten. »Pass bloß auf, sonst landest du noch am Pranger.«
»Mein Habit für deinen Humor«, erwiderte Bruder
Hilpert mit Blick auf die Schandsäule, an der schon so mancher zum Gespött und zur
Zielscheibe diverser Wurfgeschosse geworden war. Für Spektakel dieser Art hatte
er nicht das Geringste übrig und bezweifelte, ob Halseisen, verfaultes Gemüse und
Exkremente ein probates Mittel gegen Meineid, Verleumdung und kleinere Gaunereien
darstellten. »Was tut man nicht alles, um dem Bösen auf die Schliche zu kommen.«
»Mein Freund Hilpert als Franziskaner – wer
hätte das gedacht!«, scherzte Berengar, dem Späße auf Kosten seines Gefährten zur
zweiten Haut geworden waren. An der Miene, die dieser machte, war jedoch zu erkennen,
dass ihm das Lachen vergangen war, und so ließ er das Hänseln lieber sein. »Raus
mit der Sprache – wie ist es dir ergangen?«
»Erst du.« Bruder Hilpert, für seine Verhältnisse
ungewöhnlich einsilbig, ließ seinen Worten eine auffordernde Handbewegung folgen.
»Scheint so, als hättest du Erfolg gehabt.«
»Kann man wohl sagen«, bekräftigte Berengar
und beeilte sich, eine detailgetreue Schilderung seiner Erlebnisse zu liefern. Dabei
versäumte er es nicht, auf sein Geschick im Umgang mit der Frauenwirtin zu verweisen,
worauf sich Bruder Hilpert eines Schmunzelns nicht erwehren konnte. Bei der Erwähnung
von Tuchscherers Auftauchen verschwand es jedoch wieder, und tiefe Sorge machte
sich auf seinem Antlitz breit. »Na, was sagst du jetzt?«
»Hm – höchste Zeit, dass wir ihn uns zur Brust
nehmen. Je früher, desto besser.«
Berengar stutzte. »Mehr
hast du dazu nicht zu sagen?«
»Was sollte ich denn dazu … ach so.« Da er sich
mit Lob schwertat, hatte er vergessen, wie viel es seinem Freund bedeutete, und
so verlor er keine Zeit, seinen Lapsus zu korrigieren. »Gut gemacht, Herr Vogt.«
»Das will ich meinen!«, bekräftigte Berengar
mit stolzgeschwellter Brust. »Zu dumm, dass ich keine Gelegenheit hatte, mir den
Hurenbock … äh … mir diesen Schwerenöter vorzuknöpfen, wollte ich sagen. Ein Blick
seiner Angebeteten, und
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