Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
gleich,
deutete dann aber auf die zarte Maid, deren sterbliche und von weißem Leinen umschlossene
Hülle sich rechts von Egberta Tuchscherer befand. »Agnes Egerter«, erläuterte sie
mit betretener Miene, bemüht, ihre Tränen zurückzuhalten. »Schwerste Verletzungen
im Bereich der Scham, falls Ihr versteht, was ich meine.«
Und ob er verstand.
»Nur keine Scheu, Bruder, schlagt einfach das
Tuch zurück und schaut Euch alles in Ruhe an.«
»Nicht nötig.«
»Heißt das, Ihr schenkt meiner Diagnose Glauben?«
Der Bibliothekarius schloss die Augen und nickte.
»Ich frage mich, wer zu so etwas fähig ist«, murmelte er, wohl wissend, welche Antwort
ihm vermutlich zuteilwerden würde. Deshalb ließ er die Baderstochter erst gar nicht
zu Wort kommen und ergänzte: »Und was für Menschen das sind, die es fertigbringen,
ein Neugeborenes zu meucheln.«
»Menschen? Ihr beliebt zu scherzen, Bruder.«
»Mitnichten, Jungfer, mitnichten.« Die Hände
auf den Rand des Seziertisches gestützt, hob Bruder Hilpert den Kopf und blickte
stur geradeaus. »Mensch bleibt Mensch, selbst dann, Jungfer, wenn er …«
»Selbst dann, wenn er Laurenz Tuchscherer heißt?«
Eher selten um eine Antwort verlegen, wechselte
der Bibliothekarius rasch das Thema. »Und warum das Ganze?«, forschte er, kaum sichtbare
Schweißperlen auf der hohen Stirn. »Warum habt Ihr diesen Frevel begangen?«
»Ja, ja – ich weiß schon, was Ihr sagen wollt,
Bruder. Auf Grabfrevel, Leichendiebstahl und Störung der Totenruhe steht der Tod,
sie sind ein fluchwürdiges Verbrechen. Wo kämen wir hin, wenn man nach Belieben
Leichen stehlen oder gar ausgraben dürfte. Bei meiner Ehre, Bruder: Die Sache ist
mir nicht leichtgefallen. Aber ich hatte keine Wahl. Um diesen Unhold zu überführen,
musste ich zu solchen Mitteln greifen. Ob ich wollte oder nicht.«
»Fragt sich, ob Ihr Gehör finden werdet.«
»Glaubt mir, Bruder: Die Beweise sind erdrückend.
Tuchscherer hat vier Menschen auf dem Gewissen. Und dafür wird er bezahlen.«
»Zwei, Jungfer«, wandte der Bibliothekarius
mit tonloser Stimme ein. »Lediglich zwei. Agnes Egerter und allem Anschein nach
Eure Stiefmutter. Bleibt zu klären, aus welchem Grund.«
»Und seine Frau? Das Kind? Was ist mit denen?«
»Bei allem Verständnis für das Bemühen, die
Unschuld Eurer Amme zu beweisen. Aber Ihr steht im Begriff, einen verhängnisvollen
Irrtum zu begehen.«
»Der Tod seiner Frau geht auf sein Konto!«,
betonte die Baderstochter und richtete sich kerzengerade auf. »Das lasse ich mir
nicht ausreden, Bruder.«
»Und wo, mit Verlaub, wäre das Motiv? Frau und
Kind umbringen, um der Liaison mit einer verheirateten Frau willen? Der heilige
Bernhard möge mich meiner frivolen Äußerungen wegen strafen: Aber das hätte er wirklich
einfacher haben können.«
»Und was, wenn sich die Metze von meinem Vater
…«
»Getrennt hätte, meint Ihr? Und Tuchscherer
sie geehelicht hätte? Dann wäre er ein toter Mann gewesen, zumindest politisch.
Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass er dann noch in den Rat gewählt worden wäre?
Ein potenzieller Gattenmörder, Ehebrecher und landauf, landab bekannter Schürzenjäger.
Ein Mann von niederer Herkunft, der den hohen Herren ohnehin ein Dorn im Auge sein
dürfte.« Bruder Hilpert atmete geräuschvoll aus. »Wie gesagt, ich befürchte, Ihr
seid dabei, einen Irrtum zu begehen. Die Wahrheit ist eine ganz andere.«
»Apropos ›Wahrheit‹ – wie seid Ihr mir eigentlich
auf die Spur gekommen?«
»Per Zufall. Oder, um ihr die Ehre zu geben,
indem ich mich an eine Begegnung während einer Vorlesung über die Geschichte der
Medizin erinnert habe. An der altehrwürdigen Universität zu Heidelberg.« Bruder
Hilpert hob die Stimme und sagte: »Höchst interessant, so eine Sektion.«
Ehrlich verblüfft, wandte die Baderstochter
den Kopf nach links. »Kompliment, Bruder. Ihr scheint über ein außerordentliches
Gedächtnis zu verfügen.«
»Und Ihr, Jungfer, über enorme Wissbegierde.
Und über außerordentliche Fähigkeiten.«
»Darf man fragen, was Ihr jetzt zu tun gedenkt?«
»Ich?« Auge in Auge mit
seiner Gesprächspartnerin, dachte Bruder Hilpert kurz nach. Dann gab er unumwunden
zu: »Wenn ich ehrlich bin, würde mich interessieren, woran Egberta gestorben ist.«
»An der Verabreichung einer
todbringenden Dosis Gift«, entgegnete die Baderstochter und betrachtete die Tote.
Sie sah aus wie eine alte Frau, verhärmt, verbittert und mit einem schmerzverzerrten
Ausdruck
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