Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
der Mitte seiner karg möblierten Wohnstube stand. Bruder
Alban, Zeuge des Wutausbruchs, enthielt sich jeglichen Kommentars, legte die Handflächen
aneinander und betete zu Gott, dass der Tuchfärber nicht vollends die Beherrschung
verlieren möge. »Das meint Ihr doch wohl nicht ernst, Bruder. Wie denn? Und wann?
Die Großkopferten können sich doch alles leisten. Vor allem der Tuchscherer. Will
gar nicht wissen, wieviele Mädchen der auf dem Gewissen hat!«
»Mehr als genug.«
»Eben. Und was ist mit ihm passiert, frag ich
Euch? Nichts. Aber auch rein gar nichts.«
»Gott der Herr wird ihn für seine Sünden …«
»Kommt mir doch nicht mit sowas, Bruder. Der
Tuchscherer und die Geldsäcke droben in der Herrngasse haben doch einen Freibrief.
Denken, sie können sich alles leisten. Glauben, sie können den gemeinen Mann schinden,
wie’s ihnen beliebt, ihm nach Herzenslust Besthaupt [84] , Gült [85] ,
Ungelt [86] und was weiß ich
nicht alles für Steuern aufbrummen. Nehmen sich, was sie kriegen können, fallen
über unsere Weiber, jungen Frauen und neuerdings sogar über halbe Kinder …«
»Lass gut sein, Ludolf, ich bitte dich.«
Die Frau hinter dem Spinnrad, deren Gestalt
vom Dämmerlicht verhüllt und mit Ausnahme der Hände vom Tisch aus kaum zu erkennen
war, nahm die Füße vom Pedal, verschränkte die Hände und kämpfte gegen die Tränen
an, welche die Erinnerung an die jüngsten Geschehnisse zutage förderte. In den vergangenen
zwei Tagen war sie nahezu übergangslos zur Greisin mutiert, aus der lebenslustigen,
rotwangigen und bienenfleißigen Mutter zweier Töchter war beinahe über Nacht eine
gramgebeugte alte Matrone geworden.
Der Tuchfärber, ein vierschrötiger, mittelgroßer
und zu cholerischen Ausbrüchen neigender Gernegroß in den Vierzigern, ließ sich
jedoch nicht beirren. Im Gegenteil. »Was weißt du schon, Weib!«, beschied er seine
Frau und spie den Hass, der sich in ihm aufgestaut hatte, mit krebsrotem Gesicht
aus. »Und wenn wir gerade dabei sind – was hätten wir deiner Meinung nach tun sollen?«
»Ihr helfen, was sonst.«
»Und wie? Indem ich den Kinderschänder zur Rede
stelle? Oder Geld von ihm verlange? Oder mich mit ihm duelliere? Wie ich den Tuchscherer
kenne, hätte der doch alles abgestritten. Wäre nicht der Erste, der so was tut.«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt, Ludolf. Hast
wohl vergessen, dass es eine Zeugin gibt.«
»Nützt aber nichts, wenn sie nicht den Mund
aufmacht.« Der Tuchfärber hob abwehrend die Hände. »Ja, ja, ich weiß, was du jetzt
sagen willst!«, greinte er und leerte den Becher, der vor ihm stand, in einem Zug.
»Ich hätte mich ihrer annehmen, mich um sie kümmern und sie trösten sollen. Mag
sein. Aber was geschehen ist, ist nun einmal geschehen. Das weißt du genauso gut
wie ich, Weib. Du kannst dich noch so sehr grämen, den da oben um Hilfe anbetteln
oder den Tuchscherer und seine ganze Sippschaft vor den Kadi ziehen. Die Nessel
kannst du dadurch nicht mehr lebendig machen, merk dir das. Wer konnte denn ahnen,
dass sie so was tun würde!«
»Du kannst dich nicht reinwaschen, Ludolf Egerter.
Und ich mich auch nicht.« Einen Wimpernschlag lang kehrte Stille ein, und die Anwesenden
hingen ihren Gedanken nach. »Wir müssen etwas tun, Ludolf, das sind wir ihrem Andenken
schuldig.« Wie um ihrem Ansinnen Nachdruck zu verleihen, nahm Johanna Egerter eine
kerzengerade Haltung ein, stellte den Fuß auf das Trittbrett und setzte ihre Arbeit
fort. »Gebe Gott, dass die Katharina wieder sprechen kann. Wie furchtbar, mitanzusehen,
wenn die eigene Base …«
»Grämt Euch nicht, gute Frau«, besänftigte Bruder
Alban die Tuchfärbersgattin, nickte ihr zum Abschied zu und schickte sich an, die
freudlose Stätte zu verlassen. »So Gott will, wird sich alles zum Guten wenden.«
»Und wie, Bruder?«, geiferte ihm Egerter mit
neu erwachtem Groll hinterher. »Darf man fragen, wie Ihr das fertigbringen wollt?«
»Nicht ich, Egerter, nicht ich.« Die Klinke
in der Hand, drehte sich der betagte Lektor um. »Es gibt da jemanden, der sich vorgenommen
hat, die Schuldigen zu überführen. Koste es, was es wolle.«
»Und wer, bitte schön, soll das sein? Doch nicht
etwa diese Quacksalberin, bei der sie für einen Hungerlohn geschuftet und die uns
gestern Abend mit ihrer Fragerei den letzten Nerv getötet hat?«
Urplötzlich wie verwandelt, hob Bruder Alban
die Stimme und trat mit grimmiger Miene auf den Tuchfärber zu. »Jetzt hör mir mal
gut zu, du
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