Engel der Schuld Roman
unangreifbar?
»Da war noch etwas Komisches bei meinem kleinen Besuch«, sagte er. »Ich habe mit einem Professor an der Penn geredet, der Wright und Priest gekannt hat und mir erzählte, als Kinder hätten sie alle im guten alten Mishwaka gelebt. Sie waren nicht im gleichen Alter, kamen aus verschiedenen Stadtteilen. Er kannte damals keinen von beiden, aber er fand, es wäre ein bemerkenswerter Zufall, daß sie alle auf der Penn gelandet seien. Als ich es vor Priest erwähnte, hat er es glatt abgestritten. Er sagte, er wäre in Chicago aufgewachsen.«
»Warum sollte er lügen? Schulakten sind doch sehr leicht überprüfbar.«
»Ich weiß es nicht. Als ich von dem Anruf bei Mrs. Holloman hörte«, fuhr er fort, »habe ich jedenfalls Agent Wilhelm angerufen und es ihm gesagt. Ich habe mir gedacht, du möchtest es auch wissen, und ich wollte mich nicht darauf verlassen, daß er dich heute abend noch anruft.«
»Und, was springt für dich dabei raus?« fragte sie und sah ihn streng an.
»Nichts.«
Ellen warf ihm einen zweifelnden Blick zu, als sie ihre Gabel hob. »Du verwandelst dich ja in einen richtig braven Buben, Brooks. Sei bloß vorsichtig. Du ruinierst deinen Ruf.«
Ich habe es schon einmal gesagt, dachte Ellen. Für jemanden, der behauptete, nur ein Beobachter zu sein, unternahm er entschieden zuviel. Meist hatte sie seine Einmischung für egoistisches Interesse gehalten, aber was sie jetzt in seinem Gesicht sah, im bernsteinfarbenen Schein ihrer Schreibtischlampe, sah vertrackt nach Ehrlichkeit aus. Als ob ihm etwas daran läge. Und als ob ihm das weh tat.
Er war nach Deer Lake gekommen, um sich im Elend eines anderen zu verlieren, hatte er gesagt. Aber das Elend von Dustins Eltern und Joshs Eltern war seinem zu sehr verwandt. Er hatte einen Sohn. Hatte diesen Sohn verloren, ehe er auch nur wußte, daß das Kind existierte. Hatte ihn gefunden und gleich noch einmal verloren, alles innerhalb eines einzigen Tages. Ellen spürte den Drang, ihm die Hand zu reichen.
Statt dessen griff sie nach dem Telefon und wählte Mitchs Privatnummer. Sein Anrufbeantworter schaltete sich ein, aber er kam selbst an den Apparat, als Ellen mit ihrer Nachricht begann. Sie erzählte ihm alles, was Brooks ihr berichtet hatte, und fügte ein paar ihrer eigenen Vermutungen hinzu, die er alle an Megan weitergeben sollte. Abgesehen von den Ablenkungsmanövern drehte sich der Fall um Wright und seinen Bekanntenkreis, drehte sich in einer Spirale in die Vergangenheit. Wright hatte das schon einmal gemacht. Sie hatten das schon einmal gemacht. Christopher Priest war nachmittags um drei in Richtung Süden losgefahren. Der Anruf war um vier gekommen. Wenn Megan nur den Schlüssel finden könnte . . .
»Ich dachte, O'Malley sei raus aus dem Fall«, sagte Jay vorsichtig, als Ellen den Hörer auflegte.
Sie sah ihn mit undurchschaubarer Miene an, sagte eine ganze Weile nichts.
»Du wolltest, daß ich dir vertraue«, sagte sie schließlich. »Ich vertraue dir: Agent O'Malley untersucht Wrights Lebenslauf, weil Wilhelm diese Arbeit nicht geschafft hat.«
Jay pfiff leise durch die Zähne. »Sie ist ein bißchen voreingenommen, meinst du nicht?«
»Ich glaube, sie ist ein verdammt guter Cop, und sie kann nichts an Wrights Vergangenheit verändern. Alles, was sie finden kann, sind unumstößliche Fakten.«
»Trotzdem, wenn Costello Wind davon kriegt . . .«
»Werde ich wissen woher, nicht wahr?«
»Und du wirst mein schwarzes Herz mit einem Grapefruitmesser herausschneiden.«
»Schlimmer. Du wirst dich vor Agent O'Malley rechtfertigen müssen. Sie wird sich nicht die Mühe machen, ein Messer zu nehmen.«
Ungewohnte Freude durchströmte Jay. Es ging um Vertrau en. Ellen hatte keinen Grund, es ihm aus freien Stücken anzubieten, und jeden Grund, es ihm zu verweigern.
Er erhob sich von seinem Stuhl, umrundete ihren Schreibtisch und kniete sich vor sie. Er nahm ihre Hand und führte sie zum Mund. »Meine Lippen sind versiegelt«, sagte er, und jedes Wort war eine Liebkosung ihrer Fingerspitzen.
Sie versuchte ihre Hand wegzuziehen, aber er hielt sie fest und nahm die Spitze ihres Mittelfingers zwischen seine Lippen. Ihr Atem stockte, als seine Zähne zart über die Fingerspitzen kratzten, seine Zunge sie berührte, das sanfte Saugen.
»Jay . . .«
Er ließ seine Lippen über ihre Handfläche gleiten, verweilte an der zarten Haut ihres Handgelenks. »Du vertraust mir, Ellen?« flüsterte er und zog sie vom Stuhl hoch.
Nervosität und
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