Engel der Schuld Roman
Verlangen zitterten in ihr. »Es steht soviel auf dem Spiel, Jay.«
»Ich weiß«, sagte er. Er wußte, daß sie den Fall meinte, wußte, daß mehr dahintersteckte.
»Ich war noch nie für irgend jemanden der Held, Ellen«, sagte er. »Ich habe mein Leben für mich selbst gelebt, zum Teufel mit allen anderen. Ich war immer schnell mit Lügen und Rechtfertigungen bei der Hand, wenn es mir in den Kram paßte. Und ich sehe dich an und denke: Brooks, du hast kein Recht, sie anzufassen, weil sie besser ist, als du es jemals sein wirst. Aber ich will dich trotzdem.«
»Und du kriegst immer, was du willst.«
»Das habe ich auch immer gedacht«, murmelte er. »Jetzt trete ich zurück und sehe mir an, was ich habe, und nichts davon bedeutet mir auch nur das geringste. Das Geld, die Bosheit, die mir so wertvoll war . . . Ich schaue Hannah Garrison an, sehe, wie sie um ihr Kind kämpft . . . Ich sehe dich, sehe, wie du um Gerechtigkeit kämpfst . . . Wofür habe ich je gekämpft, wenn nicht um meinen Profit? Was habe ich anderen je Gutes getan?«
Er rang sich ein trauriges, ironisches Lächeln ab. »Wie's aussieht, mußt du mich vielleicht doch auf den rechten Weg bringen.«
»Nein«, flüsterte Ellen, »diese Verantwortung will ich nicht. Das ist deine Entscheidung. Du mußt es wollen.«
»Was ich will«, sagte er und zog sie fester an sich, »bist du.«
Er küßte sie langsam, eindringlich, und Ellen glaubte, seine Sehnsucht zu schmecken und die Verwirrung, die sie trübte. Sie erwiderte seinen Kuß, ihre eigenen Gefühle waren verwandte Seelen der seinen.
Als er den Kopf ein kleines Stück hob, ließ ihr das Verlangen in seinen Augen den Atem stocken. Das Verlangen, von etwas Gutem berührt zu werden.
So sehr sie auch versucht war, Ellen wußte, daß sie diese Schlacht nicht für ihn schlagen konnte. Sie hatte ihre eigene Schlacht zu schlagen, war von ihren eigenen Feinden eingekreist.
»Ich muß mich auf morgen vorbereiten«, murmelte sie.
Er behielt sie im Arm. »Du brauchst eine Nacht lang ungestörten Schlaf – vorzugsweise mit mir. Du kannst dich vorbereiten, bis dir die Augen bluten, aber du wirst dadurch nicht besser gewappnet sein. Du kannst nicht mehr geben, als du hast, Ellen. Du hast dein Bestes getan.«
Ihr Bestes. Ihr Bestes hatte bis jetzt nicht genügt. Sie schloß die Augen und sah Garrett Wright lächeln. Dieses wissende, allmächtige Lächeln, das ihr das Gefühl gab, daß er den Ausgang seines Spiels schon kannte.
»Das macht mir am meisten angst«, berichtete sie im Flüsterton. »Was, wenn das Beste nicht gut genug ist?«
Sie entfernte sich von ihm, fühlte sich zerknittert und welk, versuchte vergeblich, ein paar Falten in ihrer Bluse zu glätten. Früher, in Hennepin County, hatte sie immer Kleidung zum Wechseln im Büro gehabt. Aber Hennepin County war meilenweit entfernt, buchstäblich und bildlich. Hier hatte sie keine Kleidung zum Wechseln. Sie wußte nicht, ob sie überhaupt etwas von dem hatte, was sie wirklich brauchte. Den scharfen Verstand, das schnelle Auge, sie wußte nicht, ob sie nicht all das in Minneapolis gelassen hatte.
Während Jay beobachtete, wie sie mit sich kämpfte, erinnerte er sich an die blinde Panik, die immer in den letzten Stunden, bevor ein Fall vor Gericht ging, zugeschlagen hatte, an die nackte Unsicherheit. Er hatte nie die Maßstäbe seiner Familie erreichen können. Was, wenn sie recht hatten? Was, wenn hinter all dem Macho-Getue, hinter der Lässigkeit, dem Lächeln wirklich nichts war, worauf man zurückgreifen konnte, wenn man es am dringendsten brauchte?
Die Angst war eine der vielen Seiten am Beruf eines Strafverteidigers, die er nie vermißte. Bei dem, was er jetzt tat – Fälle untersuchen, nachdem alles vorbei war – , gab es keine Panik. Es war sicherer. Es tat nicht so weh. Vielleicht bist du der Feigling, Brooks . . .
Ellen hatte diesen Fall nicht gewollt, aber sie hatte die Herausforderung angenommen – nicht zu ihrem persönlichen Vorteil oder Ruhm, sondern weil sie wußte, daß sie die größte Hoffnung des Bezirks auf Gerechtigkeit war.
Zu gut f ü r dich, Brooks . . .
Er ging quer durch den Raum zu dem Platz, an dem sie stand und durch die einen Spalt breit geöffneten Rolläden starrte. Er legte von hinten seine Arme um sie, drückte einen Kuß auf ihr Haar und flüsterte: »Du wirst gewinnen«, als ob seine eigene Überzeugung genügte, um es zu schaffen.
»Ich wünschte, ich könnte mir dessen sicher sein«, sagte Ellen.
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