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Engel der Schuld Roman

Titel: Engel der Schuld Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tami Hoag
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weitere Minute verstrich.
    »Hören Sie«, sagte sie streng, »wenn Sie sich nicht einmal die Mühe machen, mir Schweinereien ins Ohr zu flüstern, dann hängen Sie auf, und machen Sie die Leitung für die frei, die wissen, was ein obszöner Anruf ist.«
    Kein Ton.
    Ellen knallte den Hörer auf, redete sich ein, das sei ein taktischer Zug und nicht die Nerven. Eine Lüge, die ihr schmerzlich bewußt wurde, als das Telefon erneut schrillte und sie erschrocken zusammenfuhr. Sie starrte den Apparat an, während er ein zweites und drittes Mal klingelte, dann gab sie sich einen Ruck und nahm den Hörer ab.
    »Ellen North.«
    »Ellen, Mitch hier. Josh ist zu Hause.«
     
TAGEBUCHEINTRAG
    25 . Januar 1994
    Sie glauben sie h ä tten uns
Schuldig wie die S ü nde
Auf frischer Tat ertappt
Todsicher
Falsch

4
    »Josh, hat der Mann dir weh getan?«
    Josh gab keine Antwort. Er wandte statt dessen den Blick zu dem Poster an der Wand. Es zeigte einen Mann auf einem grauen Pferd, das über einen Zaun springt. Es war hell und bunt. Josh dachte sich, er würde gern irgendwann ein solches Pferd reiten. Er schloß die Augen und stellte sich vor, er würde ein graues Pferd auf dem Mond reiten.
    Dr. Robert Ulrich verkniff sich einen Seufzer, sah kurz zu Mitch, dann wandte er sich wieder Hannah zu. »Ich kann keine Anzeichen für sexuellen Mißbrauch finden.«
    Hannah stand neben dem Untersuchungstisch, auf dem Josh in einem dünnen blaubedruckten Baumwollhemd saß. Er sah so klein, so schutzlos aus. Das grelle Neonlicht machte seine Haut aschfahl. Sie hatte eine Hand auf seinen Arm gelegt, um ihm Sicherheit zu geben – und sich selbst auch. Da sie selbst Ärztin war, wußte sie, daß sie sich nicht in die Untersuchung einmischen durfte. Aber sie brachte es auch nicht fertig, sich auf den einen Meter entfernten Stuhl zu setzen. Sie hatte Josh, seit sie vor zwei Stunden die Haustür geöffnet hatte und ihn da stehen sah, nicht mehr losgelassen.
    Sie hatte gerade zu schlafen versucht – etwas, das sie nicht mehr tun konnte. Das Bett schien zu groß, das Haus zu still, zu leer. Sie hatte Paul gesagt, er müßte Samstag abend das Haus verlassen, aber verloren hatte sie ihn schon lange vorher. Ihre glückliche Partnerschaft von einst war nur noch eine ferne Erinnerung. In letzter Zeit hatte es zwischen ihnen nur noch Spannung und Bitterkeit gegeben. Der Mann, den sie vor zehn Jahren geheiratet hatte, war süß und sanft gewesen, voller Hoffnung und Enthusiasmus. Der Mann, dem sie vor zwei Abenden gegenübergestanden hatte, war zornig und kleinlich und eifersüchtig gewesen, unzufrieden und emotionell verletzend. Sie kannte ihn nicht mehr. Sie wollte ihn auch nicht mehr kennen.
    Und so hatte sie allein in ihrem großen Bett gelegen, hatte hinaufgestarrt zum Oberlicht und zum schwarzen Fetzen einer Januarnacht und hatte sich gefragt, was sie tun sollte. Wie sollte sie mit allem fertig werden, wer würde sie danach sein? Das war die große Frage: Wer würde sie sein? Jedenfalls war sie nicht mehr dieselbe Frau wie vor zwei Wochen. Sie wußte nur, daß sie tatsächlich damit fertig werden würde, irgendwie. Das mußte sie, für sich selbst und für Lily . . . und für Josh, für den Tag, an dem er nach Hause zurückkehren würde.
    Und dann war er mit einem Mal da, stand auf der Vordertreppe.
    Seit diesem Augenblick hatte sie ihn nicht mehr losgelassen, aus Angst, der Zauber könnte brechen. Sie streichelte die weiche Haut am Unterarm ihres Sohnes, versicherte sich, daß er wirklich und lebendig war.
    »Hannah? Hörst du mir zu?«
    Sie blinzelte und konzentrierte sich auf Bob Ulrichs eckiges Gesicht. Er war über die Mitte der Vierzig hinaus. Seit dem Tag, an dem sie zu einem Vorstellungsgespräch ins Gemeindekrankenhaus von Deer Lake gekommen war, war er ein Freund. Sein Einfluß im Aufsichtsrat hatte den Ausschlag für ihre Ernennung zur Leiterin der Notaufnahme gegeben. Er hatte Lily entbunden und Josh die Mandeln herausgenommen. Er war heute nacht ins Krankenhaus gekommen, weil sie ihn gebeten hatte, Josh zu untersuchen. Jetzt sah er sie besorgt an.
    »Ja«, sagte Hannah. »Entschuldige, Bob.«
    »Möchtest du dich setzen? Du siehst etwas benommen aus.«
    »Nein.«
    Mitch widersprach ihr, ohne ein Wort zu sagen, schob ihr einen Hocker hin und drückte sie mit einer Hand auf ihrer Schulter auf den Sitz. Ihre blauen Augen waren glasig, ihre Haare ein hastig zusammengebundenes Gewirr von goldenen Locken. Die vergangenen Wochen hatten an ihrem

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