Engel der Schuld Roman
»Josh, kannst du mir sagen, ob dir jemand Blut aus dem Arm genommen hat?«
Josh wandte sich mit geschlossenen Augen seiner Mutter zu und streckte die Arme nach ihr aus. Hannah rutschte von ihrem Hocker und zog ihn an sich. »Er ist erschöpft«, sagte sie ungeduldig. »Und ihm ist kalt. Warum ist es so verdammt kalt in diesem Krankenhaus?«
»Du hast recht, Hannah«, sagte Ulrich ruhig. »Es ist schon nach zwei. Für heute haben wir alles Notwendige getan. Wir werden dich und Josh in einem Zimmer unterbringen.«
Hannahs Kopf schnellte hoch, Panik erfaßte sie. »Ihr wollt ihn hierbehalten?«
»Ich halte es unter diesen Umständen für das Klügste. Zur Beobachtung«, fügte er hinzu, um sie zu beruhigen. »Jemand paßt doch auf Lily auf, richtig?«
»Ja, aber . . .«
»Josh hat sehr viel durchgemacht. Behalten wir ihn ein, zwei Tage zur Beobachtung hier. In Ordnung, Dr. Garrison?«
Die Frage, dachte Hannah, hatte er hinzugefügt, um sie daran zu erinnern, wer sie war. Dr. Hannah Garrison wußte, wie die Dinge gehandhabt wurden. Sie wußte, was die Logik diktierte.
Sie wußte, wie sie ihre Fassung und ihre Objektivität wahren konnte. Sie war stark und gelassen, kühl, wenn es darauf ankam. Aber sie hatte aufgehört, Hannah Garrison zu sein. Jetzt war sie Joshs Mami, entsetzt von dem, was ihr Kind durchgemacht haben mußte, krank vor Sorge, gepeinigt von Schuldgefühlen.
»Was hältst du davon, Josh?« fragte Ulrich. »Du darfst in einem dieser coolen elektrischen Betten mit Fernbedienung schlafen, und deine Mom wird direkt bei dir im Zimmer sein. Was denkst du?«
Josh vergrub sein Gesicht an der Schulter seiner Mutter und klammerte sich fester an sie. Er wollte überhaupt nicht denken.
Ellen lief in der Enge des Wartezimmers ruhelos auf und ab.
Marty Wilhelm, der Agent, den das BCA aus St. Paul als Ersatz für Megan geschickt hatte, saß auf der Couch und zappte mit der Fernbedienung durch die Kabelkanäle, offensichtlich hypnotisiert von den wechselnden Farben und Bildern. Er sah jung und dumm aus. Ein Tom Hanks ohne dessen Verstand. Zu niedlich, mit kurzer Nase und einem Mop lockiger Haare.
Ellen hatte ihn auf den ersten Blick gehaßt und sich dann dafür gerügt. Es war nicht Wilhelms Schuld, daß Paige Price beschlossen hatte, ein zweifelhaftes Spiel zu spielen und die Aufmerksamkeit der Medien auf die knospende Beziehung zwischen Mitch und Megan zu lenken. Es war auch nicht Martys Schuld, daß Megan eine jähzornige Irin war und eine zu scharfe und zu schnelle Zunge hatte. Daß Megan ein Public-Relations-Problem geworden war, das ihren Wert als Cop zerstörte, hatte nichts mit Marty zu tun.
Aber wie sie es auch drehte und wendete, sie konnte ihn einfach nicht ausstehen.
Jetzt sah er sie an, mit Augen so braun und leer wie die eines Spaniels, und sagte zum neunten Mal: »Die brauchen vielleicht lange.«
Sie schickte ihm jenen Blick zu, mit dem sie begriffsstutzige Jungen in der High-School abgefertigt hatte, und lief weiter auf und ab.
Der einzige weitere Anwesende im Wartebereich, Pater McCoy, erhob sich aus einem klobigen Sessel, der zu niedrig für ihn war, und streckte seinen verkrampften Rücken. Ellen war als Episkopalistin aufgewachsen. Sie kannte ihn nur vom Sehen und hatte dies und jenes über ihn gehört. Er war kein Barry Fitzgerald. Tom McCoy war groß, sah gut aus, war gebaut wie ein Athlet, und seine Augen hinter der goldgeränderten Brille waren blau und freundlich. Er war in Jeans und Flanellhemd ins Krankenhaus gekommen, wodurch er eher wie ein Holzfäller und nicht wie ein Priester aussah.
Er warf Ellen einen fragenden Blick zu, während er Kleingeld aus seiner Tasche fischte. »Kaffee?«
»Nein, danke, Pater. Ich habe schon zuviel Kaffee getrunken.«
»Ich auch«, gab er zu. »Eigentlich brauche ich einen Drink, aber ich glaube, die Cafeteria hat keine Maschine, die guten irischen Whisky ausschenkt.«
Als McCoy wegging, neigte Wilhelm den Kopf zur Seite. »Ein Priester wie der ist mir noch nie begegnet. Wo ist sein Kragen?«
Ellen schickte ihm noch einmal diesen Blick. »Pater Tom ist ein Nonkonformist.«
»Das habe ich mir gedacht. Was haben Sie denn von seinem Diakon Albert Fletcher gehalten?«
»Ich habe Albert Fletcher nicht gekannt. Offensichtlich war er ein sehr gestörter Mensch.«
Fletcher war im Zusammenhang mit der Entführung in Verdacht geraten, wegen seiner Verbindung zu Josh; er war Joshs Religionslehrer, und Josh war Ministrant. Fletcher war so von der
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