Engel der Verdammten
war ich wohl dem, was mich Zurvan tausendmal gelehrt hatte, sehr nahe, nur erinnerte ich mich nicht an Zurvan. Warum sonst hätte ich dieses Mädchen rä-
chen wollen? Warum sonst hätte ich den Rabbi wegen seines Mangels an Gnade mir gegenüber so verachten sollen? Warum sonst faszinierte mich das Böse in diesem Mann mir gegenüber so sehr, dass ich ihn nicht auf der Stelle tötete?
Er unterbrach meinen Gedankengang mit seiner sanften verführerischen Stimme.
›Und nun sind wir angekommen, bei mir zu Hause, Asrael‹, sagte er.
Das brachte mich schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
›Und gleich hier ist die Tür.‹ Er machte eine träumerische, trä-
ge Geste in Richtung der Menschen, die sich rechts und links von uns drängten. ›Lass dich nicht durch sie erschrecken. Bitte tritt doch ein.‹
Weit oben sah ich ganze Reihen hell erleuchteter Fenster.
Die Wagentüren hatten sich mit einem deutlich hörbaren Klick entriegelt, jemand war dabei, sie aufzureißen. Ich entdeckte, dass man einen Gang unter einem Baldachin für ihn vorbereitet hatte; zwischen bronzenen Pfosten waren Seile gespannt, die die Menge zurückhalten sollten. Fernsehkameras richteten sich auf uns. Männer in Uniform hielten die kreischenden, ihm zujubelnden Massen zurück.
›Und, können sie dich sehen?‹, flüsterte Gregory vertraulich, als wenn wir ein Geheimnis miteinander teilten.
Damit durchbrach er die bisher so perfekte Haltung mir gegen-
über. Ich fühlte mich geneigt, das großzügig zu übersehen.
Aber dann tat ich es doch nicht.
›Sieh doch selbst, ob sie mich sehen können oder nicht, Gregory.‹ Mit einem schnellen Griff nahm ich die Truhe hoch, schob sie unter meinen linken Arm, packte den Türgriff und kletterte über seine Beine hinweg vor ihm aus dem Wagen, mitten in das gleißende elektrische Licht, das sich auf den Gehweg ergoss. Da stand ich nun. Ich hielt die Truhe an meine Brust gepresst. Vor mir ragte ein großes Gebäude auf.
Kaum dass ich seine Spitze sehen konnte.
Wohin ich auch sah, sah ich aufgerissene Münder. Wohin ich auch sah, sah ich gaffende Blicke. In dem Stimmengewirr hör-te ich Leute nach Gregory rufen, hörte sie nach Blut für Esthers Blut verlangen. Die verschiedenen Gebete konnte ich nicht auseinander halten.
Kameras und Mikrofone wurden uns entgegengehalten; eine Frau rief mir in rasender Hast Fragen zu, viel zu schnell, als dass ich sie hätte verstehen können. Die Menge durchbrach fast die Seile, doch weitere Uniformierte strömten herbei und stellten die Ordnung wieder her. Junge und alte Leute drängten sich hinter der Absperrung.
Die Scheinwerfer verströmten eine derartige Hitze, dass die Haut meiner Wangen brannte. Ich hob die Hand, um meine Augen davor abzuschirmen.
Ein donnernder Schrei aus vereinten Kehlen erhob sich, als Gregory nun erschien, den hilfreichen Chauffeur an seiner Seite, der ihm beflissen den Mantel abklopfte, auf dem noch der Rost der Truhe haftete. Er trat neben mich. Er schob seine Lippen an mein Ohr und sagte: ›Sie sehen dich tatsächlich.‹
Mein dämmriger, unwirklicher Zustand war immer noch nicht vergangen, das Geschrei, das mich fast taub machte, war kein Englisch. Ich schüttelte die mich einhüllende Trauer ab und schaute mitten hinein in die grellen Lichter und die schreien-den Massen vor mir.
›Gregory, Gregory, Gregory!‹, skandierten die Menschen.
›Ein Tempel, ein Gott, ein Geist.‹
Zuerst überlappten sich die Rufe, schwappten in Wellen über uns hinweg, doch dann vereinigten sich die Stimmen:
›Gregory, Gregory, Gregory! Ein Tempel, ein Gott, ein Geist!‹
Er hob die Hand und winkte, drehte sich nach rechts und links, dann um sich selbst, und nickte und lächelte, winkte auch den hinter ihm Stehenden zu, und dann drückte er seine Lippen auf die Hand, genau die, die ich vorhin geküsst hatte, und warf nicht nur eine Kusshand, sondern unzählige in die Menschenmenge, die aufkreischte und immer wieder entzückt seinen Namen rief.
›Blut, Blut, Blut für Esther!‹, schrie einer.
›Ja, Blut für ihr Blut! Wer hat sie umgebracht?!‹
Noch übertönten das zwar die vorherigen Rufe, doch immer mehr Leute in der Menge nahmen den Schrei auf, und: ›Blut für Esthers Blut‹, klang es, und alle stampften mit den Füßen im Takt zu den Worten.
›Blut, Blut, Blut für Esthers Blut.‹
Die Kamera- und Mikrofonträger durchbrachen die Absperrung und kreisten uns ein.
›Gregory, wer hat sie
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