Engel der Verdammten
Linien vor. Das hatte ich wirklich gut hinbekommen. Kein Gebieter hatte das je besser gemacht.
Nur wusste ich diese Linien nicht zu lesen, doch dass sie perfekt bis ins kleinste Detail waren, sah ich sofort.
Dann entschloss ich mich, etwas zu tun, das ich mir selbst nicht erklären konnte. Ich drückte einen Kuss auf die Innenflä-
che seiner Hand. Ich küsste das weiche Fleisch seiner Hand; presste meine Lippen fest darauf, und als ich den Schauer spürte, der ihn durchfuhr, sonnte ich mich darin, fast so wie er sich in meiner Gegenwart sonnte.
Ich sah ihm in die Augen und fand etwas von meinen eigenen Augen darin, sie waren so groß, so dunkel wie meine, und selbst der dichte Kranz der Wimpern, auf den ich einst als Lebender so stolz gewesen war, war der Gleiche.
Ich hätte ihn gern auf die Lippen geküsst, sie gegen die meinen gepresst, so, wie es Feinde tun, bevor sie versuchen, sich gegenseitig umzubringen.
Und wahrhaftig, wenn es je in der Existenz des Hüters der Gebeine einen Augenblick wie diesen gegeben hatte, konnte ich mich zumindest nicht daran erinnern. Nicht ein Fädchen einer solchen Erinnerung war da. Wirklich spürte ich nur eines, dass er mich faszinierte, und die einzige unangenehme Regung war, dass ich Esthers Gesicht wahrnahm und die letzten Worte, die von ihren Lippen kamen.
›Und was lässt dich glauben, dass ich nicht der Gebieter bin?‹, flüsterte Gregory Ein strahlendes, beinahe verzücktes Lächeln spielte um seine Lippen.
Ich ließ seine Hand los, und er zog sie fort und legte dann seine Hände nebeneinander, als wolle er sie vor mir in Sicherheit bringen, aber er machte das mit einer taktvollen Eleganz.
›Ich bin dein neuer Meister, und das weißt du‹, sagte er sanft.
Doch der Ton war eifrig und liebevoll. ›Asrael! Du gehörst mir.‹
Er hatte nicht einmal mehr einen Hauch von Angst in sich. Tatsächlich schien das Wunder, das ihm hier begegnete, das in-nerste Selbst seiner Person zu sein, der Teil, der schon dem Rabbi und einer ganzen Armee von Menschen getrotzt hatte und der auch mir trotzen wollte. Das Wunder in ihm war ...
was? Die monströse Arroganz des Eroberers?
›Ich bin nicht dein Gebieter?‹, fragte er.
Ich sah ihn ruhig an. Ich dachte über ihn auf eine ganz neue Art nach, nicht im Zorn, sondern prüfend, weil ich wissen wollte, wer und was er genau war. Hatte er Esther getötet? Was, wenn nicht?
›Gregory, ich sage nicht, dass du nicht der Gebieter bist. Ich sage nur, dass ich nicht allwissend bin. Man muss den Geistern vergeben, dass sie so viel und so wenig zugleich wissen.‹
›Das ist wohl auch bei uns Sterblichen so‹, antwortete er mit einem delikaten Hauch von Traurigkeit in der Stimme. ›Und hast du jemals zu ihnen gehört?‹
Eiseskälte packte mich unversehens, ließ meine neu geschaffene Haut schaudern. Dämmerlicht. Von glasierten Ziegelwänden echoten die Schreie der Menge. Ich schüttelte mich unwillkürlich. Natürlich war ich einst ein Sterblicher gewesen!
Na, und?
Jetzt war ich hier in diesem Wagen, bei ihm. Der Prozess der Fleischwerdung lief immer noch in mir ab, die Sehnen wurden straffer, mein Körper bildete in meinen neuen Knochen immer feiner Mineralien aus, und auf meinen Handrücken und den Armen wuchsen die Härchen immer länger, und auf den Wangen lag der frische Flaum des langsam wachsenden Barts.
Und diesen Prozess musste ich selbst in Gang gesetzt haben.
Denn Gregory summte keine Sprüche, damit das alles geschah, und er rezitierte keine Beschwörungen. Er wusste ja nicht einmal, dass all das im Gange war. Wenn von ihm irgendetwas Alchemistisches ausstrahlte, dann höchstens die Al-chemie seines Gesichtsausdrucks, seines Staunens und seiner deutlich zu erkennenden Liebe.
Wieder diese Trübheit. Sie überfiel mich schnell und überwältigend - eine Prozession, eine breite Straße mit hohen, blau glasierten Ziegelmauern, und der Duft unzähliger Blüten, Leute winkten, und eine grauenhafte Trauer, eine Bitternis, die so allumfassend war, dass ich einen Augenblick lang das Gefühl hatte, in Auflösung begriffen zu sein. Der Wagen schien mir schon keine Substanz mehr zu haben, was bedeutete, dass ich daraus verschwand. In die Vergangenheit blickend, sah ich mich den Arm heben, und ich hörte Stimmen, die Lobeshym-nen sangen. Mein Gott wollte mir keinen Blick schenken. Mein Gott wandte sich ab von mir, von dem Prozessionszug, und er weinte.
Ich schüttelte den Kopf. Gregory beobachtete mich derweilen, schien ein
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