Engel der Verdammten
Freude.
›Hüter der Gebeine!‹, wiederholte er und zeigte mir seine sämtlichen Zähne in einem blitzenden Lächeln.
›Ja, Gregory‹, antwortete ich, bewegte die Zunge in meinem Mund, und sprach Englisch, seine Sprache. ›Ich bin hier, wie du siehst.‹
Ich musterte ihn eingehend. Ich hatte seine Kleidung noch übertroffen, denn mein Mantel war aus weicher, makelloser Seide, und die Knöpfe waren aus Jaspis, und das Haar fiel mir lang auf die Schultern herab. Schwer war es! Und meine Haltung war gefasst, während er ziemlich außer Fassung auf dem Boden saß.
Langsam, sehr langsam, mit dem Türgriff als Stütze, kam er vom Boden hoch, lehnte sich in den samtbezogenen Sitz und schaute zuerst auf die Truhe zu seinen Füßen, dann auf mich.
Ich drehte mich einen Moment hastig zur Seite. Ich konnte nicht anders. Ich hatte Angst. Ich musste einfach kontrollieren, ob ich mich selbst in dem getönten Glas der Scheiben sehen konnte. Draußen glitt die Nacht wie in einem herrlichen Traum-flug vorbei, die herandrängende, turmgespickte Stadt, in der grell orangefarbene Lichter wie feurige Fackeln glühten.
Und da war Asrael, der mit klugen schwarzen Augen sein Ebenbild begutachtete, glatt rasiert, das Haar kapuzengleich um den Kopf fallend und die dichten Augenbrauen, wie immer, wenn er lächelte, leicht nach oben gezogen.
Ohne Eile wandte ich Gregory den Blick wieder zu, schenkte ihm ein Lächeln. Mein Herz klopfte, und meine Zunge bewegte sich ohne Schwierigkeiten. Ich lehnte mich zurück, fühlte die Bequemlichkeit des gepolsterten Sitzes, spürte die Vibration des Motors, die sich durch den weichen, edlen Samt hindurch in meinen Körper fortpflanzte.
Ich hörte Gregorys Atemzüge, sah, wie sich seine Brust hob und senkte. Abermals sah ich ihm direkt in die Augen.
Er war hingerissen. Seine Arme waren nicht einmal angespannt, die Finger lagen geöffnet auf seinen Knien. Er richtete sich nicht einmal auf, so als wolle er sich gegen einen Stoß oder Schlag rüsten. Er hatte die Augen weit geöffnet und lä-
chelte ebenfalls.
›Du bist ein tapferer Mann, Gregory‹, sagte ich. ›Mit Tricks wie diesen habe ich andere Männer schon in stammelnde Idioten verwandelt.‹
›Oh, wenn ich eines glaube, dann das‹, gab er zurück.
›Aber nenne mich nicht so. Nicht Hüter der Gebeine. Ich mag das nicht. Nenne mich Asrael. So heiße ich.‹
›Warum sagte sie das?‹, fragte er sofort. ›Warum sagte sie das, da in dem Krankenwagen? Sie sagte »Asrael«, wie du es jetzt gesagt hast.‹
›Einfach, weil sie mich sah. Ich sah sie sterben. Sie nahm mich wahr und nannte zweimal meinen Namen, und mehr sagte sie nicht, sie starb.‹
Er ließ sich sachte in den Sitz sinken, schaute hoch und an mir vorbei, stemmte sich gegen die unvermeidlichen Erschütte-rungen des Wagens, die sich ergaben, wenn der Chauffeur die Geschwindigkeit drosselte, vielleicht weil er vom Verkehr dazu gebracht wurde. Er hielt den Blick eine ganze Weile abgewandt und lenkte seine Augen erst langsam wieder auf mich, dabei zeigte er eine ganz furchtlose und beiläufige Haltung, wie sie mir bei kaum jemandem vorgekommen ist.
Dann, als er die Hand hob, begann er zu beben. Doch das war nicht Feigheit. Nicht einmal Schock. Es war die überwältigende, schier wahnsinnig triumphierende Wonne, wie er sie gezeigt hatte, als er den Schädel berührte.
Er hätte mich gern angefasst. Er rieb die Hände gegeneinander, streckte sie aus, doch zog sie dann wieder zurück.
›Nur immer zu‹, sagte ich. ›Es macht mir nichts. Tu's ruhig. Ich möchte es sogar.‹
Dabei beugte ich mich nach vorne und griff schnell, ehe er es verhindern konnte, nach seiner rechten Hand und hob sie hoch. Er starrte mich mit weit aufgerissenem Mund an. Ich nahm seine Hand und drückte sie gegen meinen dichten Haarschopf und dann gegen meine Wange und gegen meine Brust.
›Spürst du einen Herzschlag?‹, fragte ich. ›Es gibt keinen. Nur ein Pulsieren, als wäre ich insgesamt ein heiles, schlagendes Herz, wo doch genau das Gegenteil wahr ist. Deinen Puls füh-le ich, deutlich genug, er rast. Ich fühle deine Stärke, und du hast nicht zu wenig davon.‹
Er wollte seine Hand lösen, aber das war nur der Form halber, und ich ließ es nicht zu; ich hielt sie fest, im Licht der Straßen-beleuchtung, das durch die Fenster fiel, sah ich seine offene Handfläche.
Der Wagen kroch jetzt dahin.
Ich sah die Linien in seiner Hand, öffnete meine freie Hand und fand dort die gleichen
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