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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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die lichtfunkeln-de Nacht einließen.
    Kein Zikkurat, keine Festung, keine Waldung konnte höher liegen als die Räume, in denen wir nun waren. Wir waren im Reich der luftigen Geister.
    ›Meine bescheidene Bleibe‹, murmelte Gregory. Er musste seine Augen förmlich von mir losreißen, aber er fing sich schnell.
    Aus den Fluren kam der Klang von Stimmen und der Hall von Schritten. Irgendwo weinte eine Frau schmerzerfüllt. Türen fielen zu. Doch es kam niemand.
    ›Das ist Esthers Mutter, die da weint, nicht wahr?‹, fragte ich.
    ›Das ist ihre Mutter.‹
    Gregorys Miene wurde ausdruckslos, dann traurig. Nein, das war mehr als Trauer, schmerzhafter noch, etwas, das er in Gegenwart des Rabbi nicht gezeigt hatte, als sie über seine ermordete Tochter sprachen. Er zögerte, schien kurz davor, etwas zu sagen, und nickte dann nur. Die Trauer verzehrte ihn, zeigte sich in seinem Gesicht, seinem Körper, selbst in seinen Händen, die schlaff an seinem Körper herabhingen.
    Er nickte abermals.
    ›Sollten wir nicht zu ihr gehen?‹, fragte ich.
    ›Und warum das?‹, fragte er ergeben.

    ›Weil sie weint. Sie ist traurig. Hör nur die Stimmen. Jemand behandelt sie unfreundlich.‹
    ›Nein, sie versuchen nur, ihr die Medikamente zu geben, die sie braucht ...‹
    ›Ich möchte ihr sagen, dass Esther nicht gelitten hat, dass ich bei ihr war und dass ihr Geist sofort die Stufen zum Himmelreich erklommen hat. Ich will ihr das sagen.‹
    Er überlegte einen Moment. Währenddessen wurden die Stimmen etwas leiser. Und auch kein Weinen war mehr zu hören.
    ›Nimm meinen Rat an‹, sagte Gregory, wobei er seine Hand mit einem festen Griff um meinen Arm legte. ›Komm zuerst mit mir in meine Räume und rede mit mir. Deine Worte sind im Augenblick sowieso bedeutungslos für sie.‹
    Mir gefiel das nicht. Doch ich wusste, wir hatten zu reden, er und ich.
    ›Aber trotzdem, später, wenn es dir passt, möchte ich sie sehen, ich möchte sie trösten. Ich möchte ...‹
    Keine Worte. Keine menschlichen Listen. Plötzlich war da nur die niederschmetternde Gewissheit, dass ich auf mich selbst gestellt war. Warum, um Himmels willen, war es mir erlaubt, mit der ganzen Kraft eines Mannes ausgestattet in diese Welt zurückzukehren? Eigentlich sogar mit noch größerer Kraft.
    Gregory sah mich forschend an.
    In einem schwach beleuchteten Vorraum sah ich zwei weiß gekleidete Frauen. Die Stimme eines Mannes erhob sich heiser und ärgerlich hinter einer Tür.
    ›Die Truhe‹, sagte Gregory und zeigte auf den goldenen Kasten in meinen Armen. ›Lass sie so etwas nicht sehen. Das würde sie nur aufregen. Komm zuerst mit mir.‹
    ›Ja, das ist ein merkwürdiges Ding, das hier‹, sagte ich und schaute auf die Truhe, auf die kleinen goldenen Plättchen, die davon abbröckelten.
    Wieder dieses vage, dämmrige Gefühl, Kummer. Das Licht veränderte sich um eine winzige Nuance.
    ›Fort mit euch, all ihr Zweifel, ihr Sorgen und Ängste vor dem Misserfolgs hauchte ich in einer Sprache, die er unmöglich verstehen konnte.

    Da war der vertraute Gestank kochender Flüssigkeit, ein goldener Nebel vor meinen Augen. Du weißt, warum. Aber ich wusste es nicht. Ich wandte mich ab, schloss die Augen, richtete sie jedoch gleich wieder auf den langen Gang, auf das Fenster, das sich gegen den Nachthimmel hin öffnete.
    ›Schau es dir an‹, sagte ich, ich hatte eine vage Bemerkung auf der Zunge, etwas in der Richtung, dass all der Marmor, von dem wir hier umgeben waren, die gewölbten Decken und die Pfeiler, die jede Tür einrahmten, auch nicht schöner waren als draußen das Firmament des Himmels. ›Die Sterne dort oben, sieh nur‹, wiederholte ich, ›die Sterne.‹
    Im Gebäude war es still. Gregory beobachtete mich, begutachtete mich, lauschte auf jeden meiner Atemzüge.
    ›Ja, die Sterne‹, sagte er träumerisch, mit sichtlicher Ehrerbietung.
    Seine flinken schwarzen Augen weiteten sich, und dann zeigte er wieder sein Lächeln, weich und liebevoll.
    ›Wir gehen später zu ihr und reden mit ihr, ich verspreche es dir‹, sagte er. Er packte meinen Arm und wies mir die Richtung.
    ›Aber nun komm mit in mein Arbeitszimmer, komm jetzt und lass uns reden. Es ist an der Zeit, nicht wahr?‹
    ›Wenn ich nur wüsste‹, murmelte ich. ›Sie weint immer noch, ja?‹
    ›Sie wird bis zu ihrem Tode nicht aufhören zu weinen‹, sagte er. Seine Schultern senkten sich unter dem Kummer, und seine Seele schmerzte davon. Ich ließ zu, dass er mich den Gang

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