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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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zu-rückzukommen. Als ich aus der Septuaginta zitierte, wechselte ich ins Griechische. Manchmal bezog ich mich auf den babylonischen Talmud, manchmal auf den, der noch aus Jerusalem stammte, auch sagte ich ihnen, was ich über die heiligen Ziffern wusste, und die Befragung wurde immer raffinierter. Mir schien es, als ob sich die Männer gegenseitig mit ihrer Kniff-ligkeit ausstechen wollten.
    Schließlich verlor ich die Geduld: ›Merkt ihr eigentlich nicht, dass wir uns benehmen, als wären wirin der Talmudschule, während Nathan wahrscheinlich in allergrößter Gefahr schwebt? Wie wird Nathan bei euch genannt? Helft mir doch, ihn zu retten, in Gottes Namen!‹
    ›Nathan ist fort‹, sagte der Rabbi. ›Er ist so weit fort, dass Gregory ihn nicht finden wird. Er ist in der Stadt des Herrn, dort ist er sicher.‹
    ›Woher wisst ihr, dass ihm dort nichts passieren kann?‹
    ›Am Tag nach Esthers Tod hat er sich auf den Weg nach Israel gemacht. Gregory kann ihn da nicht finden, er konnte ihm nicht auf der Spur bleiben.‹
    ›Der Tag nach ... also meinst du den Tag, bevor du mich zum ersten Mal sahst?‹
    ›Ja. Wenn du kein böser Geist bist, was bist du dann?‹
    ›Ich weiß es nicht. Ich möchte ein Engel sein, das habe ich fest vor. Und Gott wird urteilen, ob ich seinem Willen folgte oder nicht. Was veranlasste Nathan, nach Israel zu gehen?‹
    Die Alten sahen den Rabbi an, offensichtlich verwirrt. Der Rabbi sagte, er wisse nicht genau, warum Nathan ausgerechnet diesen Zeitpunkt gewählt habe, doch es schien, dass er es in seiner Trauer um Esther vorzog, seine jährlich wiederkeh-rende Arbeit in Israel schon früher anzutreten. Hauptsächlich arbeitete er dort, wie immer, an Kopien der Thora, die er dann hierher mitbrachte.
    ›Könnt ihr Kontakt mit ihm aufnehmen?‹, fragte ich. ›Warum sollten wir dir noch mehr erzählen?‹, fragte der Rabbi. ›Er ist dort sicher vor Gregory.‹
    ›Ich glaube das nicht‹, erklärte ich ihnen. ›Da ihr jetzt alle hier versammelt seid, möchte ich, dass ihr mir antwortet: Hat einer von euch den Hüter der Gebeine beschworen? Nathan vielleicht?‹

    Sie schüttelten die Köpfe und schauten den Rabbi an.
    ›Nein, Nathan würde niemals etwas so Unheiliges, Sündiges tun.‹
    ›Bin ich unheilig?‹ Ich hob die Hände und sagte: ›Kommt, ich fordere euch auf, mich auszutreiben. Versucht es. Exorziert mich, im Namen des Herrn der Heerscharen. Ich halte hier stand im Namen der Liebe, die ich für Nathan und für Esther und Rachel fühle. Ich will nur Leid abwenden. Ich werde standhalten. Legt los, wendet eure Kabbala-Abrakadabra-Magie gegen mich!‹
    Das scheuchte sie auf, sie flüsterten und murmelten, und der Rebbe, der immer noch stinkwütend war, setzte tatsächlich zu einem lauten Getöne an, um mich zu exorzieren, die anderen fielen ein, doch ich betrachtete sie nur, ohne irgendeine Wirkung zu spüren, aber bemüht, meinen Zorn nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, bemüht, nur Liebe für sie alle zu fühlen, selbst an meinen einstigen Gebieter Samuel dachte ich nur liebevoll, weil ich ihn womöglich für etwas gehasst hatte, das nur allzu menschlich war, wenn ich auch nicht mehr wusste, was. Babylon tauchte m meinem Gedächtnis auf, auch der Prophet Enoch, aber immer, wenn mich Hass oder Bitterkeit überfielen, schob ich diese Gefühle beiseite und dachte an Liebe, an weltliche Liebe, geistliche Liebe, Liebe zum Guten ...
    An Zurvan konnte ich mich noch immer nicht deutlich erinnern, nur ein Gefühl war da, doch ich zitierte jetzt seine Worte, so gut ich sie noch wusste. Zwar wählte ich stets unterschiedliche Worte, doch sinngemäß sagte ich immer das Gleiche: ›Der Zweck des Lebens ist, zu lieben und unser Wissen um die vielfältige Komplexität der Schöpfung zu erweitern. Güte ist der Weg Gottes.‹
    Als sie mit ihren Beschwörungen fortfuhren, schloss ich die Augen, durchforschte mein Gedächtnis, suchte nach den richtigen Worten, beschwor die Welt, mir die passenden Worte zu überlassen, die sie endlich zum Schweigen bringen würden, so wie ich von ihr meine Kleidung bezog oder die Haut, die mich so menschlich machte. Und endlich sah ich die Worte vor mir. Ich sah einen Raum vor mir, einen mir bekannten Raum, wenn ich auch nicht wusste, wo er war. Inzwischen ist mir na-türlich klar, dass es das Scriptorium im Hause meines Vaters war. Und ich begann zu singen, sang die Worte, wie ich sie vor langer, langer Zeit, die Harfe auf den Knien, gesungen hatte und

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