Engel der Verdammten
geheimnisvollen Tafel in meines Vaters Hand. ›Verbirg das hier bei den Gebeinen der Assyrer‹, verlangte sie und lachte. ›Und denk an meine Worte; sie werden dir Jerusalem dafür geben! Tu, was ich dir sage!
Sie haben schon nach mir geschickt. Ohne mich wissen sie nicht einmal, wie das Gold auf die rechte Art gemischt wird.
Ich werde ihnen helfen, doch die Tontafel soll hier sicher bei dir verwahrt sein, wenn sie sie von mir fordern.‹
›Wer gab dir denn diese so überaus kostbare Tafel, Asenath?‹, fragte ich sarkastisch, da meine Angst und Ungeduld angesichts dieser Dinge zusehends wuchsen. Ich hatte meinen Vater noch nie so ernst gesehen. Das gefiel mir ganz und gar nicht.
›Betrachte es nur, Schriftgelehrter, kluger Kopf, der du bist!‹, antwortete sie. ›Was denkst du, wie alt es ist?‹
›Tausend Könige regierten, seit es in Ton geritzt wurde‹, sagte ich. ›Es ist so alt wie Uruk.‹ Und das war damals dasselbe, als ob ich jetzt zu dir sagte, das Ding sei zweitausend Jahre alt.
›Ein Priester spielte es in meine Hand, um denen eins auszu-wischen, die seinen Tod veranlassten‹, sagte sie.
›Ich will lesen, was auf der Hülle steht‹, verlangte ich.
›Nein!‹, sagte sie. ›Nein!‹ Dabei stand sie auf, lehnte sich auf ihren Schlangenstab, oder wie zur Hölle sie das Ding nennen mochte, und sagte zu meinem Vater gewandt: ›Merke dir, es gibt zwei Möglichkeiten, diese Sache zu handhaben. Zwei. Ich will dir raten. Wenn er mein Sohn wäre, gäbe ich den Priestern diese Tafel. Und zwar gäbe ich sie dem Ehrgeizigsten von ihnen; dem, der am unzufriedensten ist und am eifrigsten be-strebt, von hier fortzukommen, und das ist dieser junge Priester, Remath. Sei schlau. Du hältst das Schicksal deines Volkes in deiner Hand.‹
Dann drehte sie sich um und streckte mit einer heftigen Bewegung ihren Stab aus, und seht nur! Die Türen öffneten sich wie von selbst. Über ihre Schulter zurückschauend, sagte sie zu mir: ›Du genießt ein großes Vorrecht, denn meine einzige Chance, unsterblich zu werden, trete ich an dich ab. Nähme ich sie wahr, hielte ich daran fest, vielleicht erlangte ich die überirdische Macht eines erhabenen Geistes, die weit über diese Welt umherirrender Toter hinausreicht.‹
›Und warum tust du es dann nicht?‹, fragte ich.
›Weil nur du dein Volk retten kannst. Du kannst uns alle retten.
Du kannst uns heimbringen nach Jerusalem, und dann ...
dann steht dir dafür eine Belohnung zu, ja, du verdienst ... ein Engel oder sogar ein Gott zu sein.‹
Ich sprang auf die Füße, wollte sie zurückhalten, mehr von ihr erfahren, doch sie ging geradewegs hinaus; indem sie die Familienmitglieder mit wilden Drohungen vor sich hertrieb, schritt sie durch die Vorhalle, das Portal sprang vor ihrem Stab weit auf, und fort war sie, verschwunden in einem Aufleuchten roter Seide auf der Straße.
Ich sah meinen Vater an. Er saß immer noch da, die Tontafel in Händen, und schaute mich mit weit aufgerissenen, tränen-verschleierten Augen an. Niemals zuvor hatte ich sein Gesicht so starr und ausdruckslos gesehen. Es war, als wüssten seine Muskeln nicht genug von solchem Kummer, solchem Schmerz, solcher Furcht, um einen Ausdruck dafür zu finden.
Er wusste nicht, was er tun sollte.
›Über was zur Hölle hat sie da geredet, Vater?‹, fragte ich.
›Komm, setz dich nah zu mir‹, gab er zurück und griff nach meiner Hand, während seine Tränen nun ungehindert flossen, als sei er ein Weib.
›Lass mich doch dieses verfluchte Ding lesen!‹, drängte ich.
Er reagierte nicht, sondern presste die Tafel fest an seine Brust. Die Tür stand offen; ich sah meine Brüder von draußen hereinlugen, und auch meine Schwester kam und fragte:
›Mein Vater, mein Bruder, wollt ihr ein wenig Wein?‹
›Es gibt nicht genug Wein auf der Welt, um mich so betrunken zu machen, wie ich jetzt eigentlich sein müsste‹, antwortete mein Vater. ›Schließ die Tür!‹ Und meine Schwester gehorchte.
Plötzlich wandte er sich mir zu, schürzte die Lippen, schluckte und sagte: ›Da draußen mit dir, das war Marduk, nicht wahr?
Oder ein Geist, der von sich behauptete, Marduk zu sein. Ha-be ich Recht?‹
›Ja, Vater, ich spreche seit meiner Kindheit mit ihm. Ist dies nun meine Strafe dafür? Was wird geschehen? Was hat es mit diesem Priester, mit Remath, auf sich? Kennst du ihn? Ich wusste nicht, dass ich ihn kenne.‹
›Du kennst ihn‹, sagte er. ›Du kannst dich nur nicht mehr an ihn
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