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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Haus.‹

    Inzwischen waren sämtliche Mitglieder unseres Haushalts im Hof erschienen, und alle schrien und brüllten, dass die alte Hexe das Haus verlassen solle, und meine Brüder befahlen ihr zu gehen, doch zu meiner Überraschung sagte mein Vater zu ihr: ›Komm, Asenath, komm herein.‹
    Als Nächstes kann ich mich nur erinnern, dass ich auf meinem Bett lag und den Gesprächen lauschte. Meine Brüder fragten sich, wie zur Hölle ich da hineingeraten war und wie ich glauben konnte, ich hätte Marduk gesehen, wenn es doch ganz offensichtlich nur ein Dämon war, und warum ich nicht erwähnt hatte, dass ich mit anderen Göttern Umgang pflegte! Meine Schwestern sagten immerfort nur: ›Ach, lasst ihn doch in Ru-he‹, und eine Sekunde lang glaubte ich den Geist meiner Mutter zu sehen, doch das habe ich vielleicht nur geträumt.
    Alle meine Onkel hatten sich zusammen mit den Ältesten in die Schreibzimmer zurückgezogen, die sich beidseitig über die halbe Länge des Hofes hinzogen ... ich erwähnte ja schon, dass der Hof sehr groß war. Und ich hatte keine Ahnung, wo mein Vater war.
    Schließlich schickte er nach mir; meine Brüder richteten mich auf, stellten mich auf die Füße und brachten mich zu ihm. Ich mochte die Tür nicht, durch die wir hindurch mussten. Wir betraten einen kleinen Raum, den Vorraum zu der ›Kammer der Ahnen‹; so hatten die Assyrer und Akkader der Vorzeit das Gewölbe genannt, in dem sie ihre Toten begruben. Diesen Raum hier hatten sie in ihre heidnischen Riten eingeschlossen, und wir hatten nie die Malereien, die eines fremden Volkes Ahnen und seine Priester und Priesterinnen darstellten, von den Wänden entfernt. Aberglaube hielt uns davon ab, und letztendlich, auch wenn sie Heiden waren, so lagen doch dort unter dem Fußboden ihre Gebeine.
    Drei unserer feinsten Stühle standen in dem Raum, du weißt schon, diese einfachen Stühle mit lederner Sitzfläche und gekreuzten bemalten Beinen, und außerdem gab es drei Lampen, deren olivenölgespeiste Dochte flackernd brannten.
    Dadurch bot der Raum einen prächtigen, aber doch Furcht einflößenden Anblick.
    Die alte Asenath saß auf dem einen Stuhl und mein Vater auf dem anderen; beide sprachen leise miteinander, unterbrachen ihre Unterhaltung jedoch sofort, als ich hereinkam. Ich ließ mich auf dem freien Stuhl nieder, meine Brüder ließen uns allein, und da saßen wir nun inmitten dieser gemalten assyrischen Figuren, umgeben von flackerndem Lichtschein in einem stickigen Raum. Ich schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Ich versuchte ganz bewusst, die Toten zu sehen. Ich versuchte, sie zu sehen, wie ich sie in Marduks Gegenwart gesehen hatte. Und einen kurzen Augenblick gelang es mir.
    Gespenstig bewegten sie sich im ganzen Raum umher, schlurften, murmelten, wiesen mit den Fingern auf uns. Ich schüttelte den Kopf und sagte: ›Hinweg mit euch.‹
    Asenath, deren Stimme für ein so altes Weib erstaunlich jung klang, lachte über mich.
    ›Du hast wohl diese befehlende Geste von dem großen Gott Marduk gelernt, habe ich Recht?‹
    Ich gab keine Antwort.
    Sie fuhr fort: ›Was, willst du in deines Vaters Gegenwart nicht zugeben, dass du treu zu deinem Gott stehst? Das wundert mich nicht. Du glaubst, du bist der erste Hebräer, der einen babylonischen Gott anbetet? Die Hügel rings um Jerusalem sind voll von Altären, an denen auch heute noch Hebräer heidnische Götter verehren.‹
    ›Und was hat das zu bedeuten, Alte?‹, fragte ich, über meinen Ärger und meine Ungeduld selbst verwundert. ›Komm zur Sache. Was hast du mir zu sagen?‹
    ›Dir gar nichts. Dein Vater hat schon alles erfahren. Du musst dich nur noch entscheiden. Du hast die Wahl. Zehn lange Jahre wurde das Neujahrsfest nicht gefeiert, und noch weit mehr Jahre ist es her, seitdem das wahrhaftige Wunder dieses Festes zum letzten Mal zustande kam. Die alten Priester, sie wissen, wie man es bewerkstelligt; doch sie wissen nicht alles; und für dieses Ding hier in meiner Hand‹ - dabei zog sie ein klobiges Päckchen aus ihrer Kleidung -›gäben sie mir ohne Frage, was immer ich wollte.‹
    Ich betrachtete es. Es war eine uralte sumerische Tonhülle, der man ansah, dass sich noch niemand an ihr zu schaffen gemacht hatte, und das bedeutete, dass auch die darin einge-schlossene Tontafel unberührt war.
    ›Was soll ich damit? Was kümmert mich das wahre Wunder des Festes ?‹, fragte ich.
    Mein Vater bedeutete mir zu schweigen.
    Asenath legte die Hülle mitsamt der

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