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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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mir die Antwort ausrechnen, da ich nicht darauf geachtet hatte, doch zu seiner Befriedigung konnte ich die Stelle benennen, fünfzig Meilen vom Rande der Wüste, in östlicher Richtung von Milet gelegen.
    ›Wer ist nun König?‹
    ›Kyros von Persien‹, sagte ich. Dann prasselte eine ganze Serie von Fragen auf mich. Ich konnte sie alle beantworten.
    Wer waren die Lyder, die Meder, die Ionier, wo war Athen, wer war Pharao, in welcher Stadt war Kyros zum Herrscher über die Welt erklärt worden? Auf alles wusste ich die Antwort.
    Er stellte rein sachliche Fragen über Farben und Nahrungsmit-tel und die Luft und über Wärme und Hitze. Und alle Fragen konnte ich beantworten. Ich wusste Allgemeines betreffend alles, doch nichts, was sich konkret auf mein eigenes Leben bezog. Ich wusste enorm viel über Gold und Silber und konnte ihm dieses Wissen auch vermitteln - was ihn beeindruckte. Ich wandte mich den Smaragden zu, die ihm der König geschickt hatte, und sagte ihm, dass sie sehr kostbar und außergewöhnlich schön seien, und zeigte ihm die Qualitätsunterschiede der einzelnen Steine. Ich zählte die Namen der Blumen in seinem Garten auf. Dann verspürte ich Müdigkeit.
    Merkwürdigerweise begann ich zu weinen. Ich begann zu weinen wie ein Kind. Ich konnte es einfach nicht unterdrücken, und das Gefühl, dass ich mich vor ihm demütigte, machte mir nichts aus. Endlich, als ich aufschaute, sah ich, dass er mich abwartend mit seinen blauen, wissbegierigen, ziemlich erbarmungslosen Augen betrachtete.
    ›Hast du das ernst gemeint, als du sagtest, man solle stets der Armen und Hungernden gedenken?‹, fragte ich ihn.
    ›Ja‹, gab er zurück. ›Ich werde dir nun erzählen, welche Dinge im Leben ich als wirklich bedeutsam erkannt habe. Hör mir gut zu, diese Lehren sollst du mir stets aufs Neue aufzählen, wann immer ich dich nach ihnen befrage. In Ordnung? Nenne sie die Lehren Zurvans, und wenn ich schon lange tot bin, sollst du auch von deinen neuen Gebietern verlangen, dass sie dir ihre Erfahrungen, ihr Wissen vermitteln, und merke dir, was sie sagen, selbst wenn es dumm ist - und du wirst merken, was dumm ist. Du bist ein sehr intelligenter Geist.‹
    ›Na gut, mein Gebieter mit den strahlend blauen Augen‹, sagte ich verärgert. ›Erzähle mir alles, was du weißt.‹
    Er runzelte die Brauen sowohl wegen des Sarkasmus als auch wegen der Schmähung. Ein Bein übers andere geschlagen, saß er in brütendem Nachdenken versunken da. In seiner Tunika wirkte er spindeldürr, das graue, gerade abgeschnittene Haar fiel ihm bis auf die Schultern, doch sein Gesicht zeigte Intelligenz und Aufmerksamkeit.
    ›Asrael‹, sagte er, ›ich könnte dich für deine Unverschämtheit strafen. Ich könnte dir Schmerz zufügen. Ich könnte dich in den Kessel stoßen, den du so sehr fürchtest, und du würdest nicht unterscheiden können, ob das real ist oder nicht! Das gelingt mir allemal.‹
    ›Und wenn du das tust, werde ich aus ebendiesem Kessel springen und dich Glied für Glied in Stücke reißen, Magier!‹
    ›Ja, das ist in etwa der Grund, warum ich es nicht getan habe‹, gab er zu. ›Lass es mich also folgendermaßen ausdrücken: Ich wünsche und erwarte Höflichkeit von dir, als Gegenlei-stung für alles, was ich dich lehre. Ich bin dein Gebieter, nach deinem Belieben.‹
    ›Klingt nicht schlecht‹, sagte ich.
    ›Nun denn. Hier also meine Erkenntnisse. Vergiss sie nie. Solange du hasst - und du kochst im Moment vor höllischem Zorn -, gibt es Grenzen für deine Möglichkeiten, und dadurch wirst du immer wieder der Gnade anderer Geister und auch anderer Magier ausgeliefert sein. Zorn ist eine irreführende Kraft, und Hass macht blind. Siehst du. Du verkrüppelst dich also selbst, verstehst du? Deshalb würde ich ihn dir gern aus-treiben, doch leider geht das nicht.
    Doch lehren kann ich dich: Akzeptiere wenigstens, was dir unter dem Einfluss von Hass und Zorn möglich ist zu akzeptieren. Als Erstes und Wichtigstes: Es gibt einen einzigen Gott, und sein Name spielt keine Rolle. Jahwe, Zeus, Aton, das ist nicht wichtig. Es ist nicht wichtig, auf welche Art man ihn anbetet, wie man ihm dient und mit welchen Ritualen.
    Es gibt nur einen Lebenszweck, einen einzigen: Die komple-xen Zusammenhänge der Welt mit offenen Augen zu sehen und das größtmögliche Verständnis dafür zu entwickeln - für ihre Schönheit, ihre Geheimnisse, ihre Rätsel. Je tiefer dein Verständnis ist, je tiefer du schaust, desto mehr

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