Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
menschliche Gestalt ergebene
    ›Nein, ich will nicht!‹, gab ich zurück. Ich konnte förmlich körperlich fühlen, wie Wut in mir aufwallte; sie ließ mich nicht zerfließen, doch die Luft um mich herum begann zu flimmern. ›Ich will sie nicht berühren.‹
    ›Gut, ganz wie es dem Herrn beliebt. Setz dich hin und sei still.
    Denke nach, versuche, dich an alles zu erinnern, was du weißt. Benutze deinen Verstand, denn der ist in deinem Geiste, nicht in deinem Körper.‹
    ›Wenn wir die Gebeine vernichten, werde ich dann sterben?‹, fragte ich.
    ›Ich sagte dir, du sollst überlegen, nicht reden‹, wies er mich zurecht. ›Nein, du wirst nicht sterben. Du kannst nicht sterben.
    Willst du enden wie die Geister, die du gesehen hast - stolpernde, stammelnde Wesen, die der Wind verweht? Oder wie ein abgestumpfter Engel, der die Welt durchwandert und sich an himmlische Gesänge zu erinnern versucht? Du bist nun auf ewig dieser Welt verhaftet, und du solltest besser alles vergessen, was dir eingibt, die Gebeine zu zerstören. Die Gebeine halten dich zusammen, buchstäblich. Sie sind für dich ein unerlässlicher Ruheplatz. Durch sie bleibt dein Geist in einem Zustand, der ihn befähigt, seine ganze Macht auszuspielen.
    Hör auf meine Worte. Sei nicht dumm.‹
    ›Ich streite nicht mit dir‹, sagte ich. ›Hast du entziffert, was auf der Tafel steht?‹
    ›Still jetzt.‹
    Ich seufzte ärgerlich auf und lehnte mich zurück. Ich betrachtete meine Fingernägel. Sie waren makellos. Ich betastete mein dichtes, ebenso makelloses Haar. Was war das für ein Gefühl, lebendig und vollkommen gesund zu sein, in einem Augenblick vollkommenen Wachseins, energiedurchströmt, unberührt von Hunger, Erschöpfung oder auch nur dem mindesten Unwohlsein ... ein anscheinend perfektes Bild der Kör-perlichkeit. Ich trat heftig auf den Boden. Ich trug natürlich mein bevorzugtes, mit Stickerei versehenes Gewand und Schuhwerk aus Samt, das einen recht zufrieden stellenden Lärm verursachte.
    Endlich schob Zurvan die Bruchstücke der Tontafeln beiseite und sagte: ›Nun denn, da es dir so sehr widerstrebt, deine Knochen zu berühren, du zimperlicher, feiger junger Geist, werde ich also die Arbeit für dich erledigen müssen.‹
    Er trat in die Mitte des Raumes und leerte den Inhalt der Truhe auf den Boden. Er trat einen Schritt zurück und streckte die Hände aus, dann ging er langsam in die Knie. Währenddessen murmelte er persische Zaubersprüche, und ich sah, dass seinen Händen etwas entströmte, das wie die Schlieren weißer Luft über einem Feuer anmutete.
    Zu meinem Erstaunen bewegten sich daraufhin die Knochen und ordneten sich zur Form eines aufgebahrten Menschen.
    Zurvan fuhr mit seinen Beschwörungen fort, und, indem er mit der Hand eine ausholende Geste vollführte, als führe er eine Nadel, brachte er eine große Spule schweren Drahtes hervor, aus Kupfer oder Gold oder Ähnlichem, das konnte ich nicht genau erkennen, und indem er diese Geste fortwährend wiederholte, fädelte der Draht das gesamte Skelett auf wie Perlen auf eine Schnur. So fügte er, nur durch die bloße Geste, mit diesem Draht Knochen an Knochen, ohne auch nur einen Teil zu berühren, dabei hielt er sich über den Händen und Füßen des Skelettes, die ja aus so vielen winzigen Knöchelchen bestanden, besonders lange auf. Dann ging er zu den Rippen und den Hüftknochen über, und schließlich fügte er mit einer schwingenden Bewegung seiner Hand die Wirbelknochen zusammen und befestigte sie am Schädel. Damit hatte er alle Teile zusammengesetzt. Man hätte das Skelett an einem Haken im Wind schwingen lassen können.
    Vor mir lag ein Gerippe wie in einem offenen Grab. Ich schob jede Erinnerung an den Kessel, an den Schmerz beiseite und staunte es an.
    Derweilen war er in ein Nebenzimmer geeilt und kehrte nun mit zwei etwa zehnjährigen Knaben zurück, die ich sofort als nicht irdisch, sondern als Geister in einer irdischen Gestalt erkannte. Die beiden trugen ein Behältnis, kleiner als meine Truhe, rechteckig, nach Zedernholz duftend, doch dick mit schwerem Gold und Silber beschlagen und dicht an dicht mit Edelsteinen verziert. Als Zurvan den Kasten öffnete, kam eine dicht gefältelte Lage Seidenstoff zum Vorschein. Auf Zurvans Geheiß nahmen die Knaben das Skelett und legten es in diesen neuen Schrein, wie ein Kind im Mutterleib ruht, die Arme über Kreuz, den Kopf gesenkt und die Knie hochgezogen zum Kinn. Dann erhoben sich die beiden und schauten mich

Weitere Kostenlose Bücher