Engel der Verdammten
›Es kommt nicht auf das Warum an; es ist einfach so: Der Sinn des Lebens ist, zu lieben und zu lernen.‹
Er seufzte. ›Stellen wir uns vor, jemand anders sucht eine Antwort auf diese Frage ... warum es so viel bedeutet, zu lieben und zu lernen? Für einen grausamen und dummen Menschen wäre folgende Antwort ausreichend: Es ist die sicherste Methode, sein Leben zu leben. Einem bedeutenden Menschen würde man sagen: So zu leben bringt den höchsten Lohn und die größte Erleuchtung. Einer selbstsüchtigen, uneinsichtigen Person würde ich antworten: Am Ende wird es dir den größten Frieden bescheren, wenn du der Armen, Hungernden, Be-drückten gedenkst, wenn du an andere denkst, wenn du liebst und lernst.‹ Er zuckte mit den Schultern. ›Dem Bedrückten selbst aber gebe ich folgende Antwort: Es wird dein Leid, dein schreckliches Leid lindern.‹
›Ich verstehe‹, sagte ich und lächelte. Eine gewaltige Woge uneingeschränkter Freude durchflutete mich. Ein süßer Rausch der Freude.
›Ah, du verstehst also‹, nickte er.
Wieder begann ich zu weinen. ›Gibt es denn nicht ein ganz einfaches Erkennungswort?‹, fragte ich.
›Welcher Art?‹
›Es ist nicht immer so einfach, zu lieben und zu lernen; man kann sich entsetzlich irren, entsetzliche Fehler machen, Menschen verletzen. Wieso gibt es kein Kennwort? Zum Beispiel...
im Hebräischen gibt es das Wort »Altashheth« - »zerstöre nicht«.‹
Ich brachte die Worte kaum hervor, so tränenerstickt war meine Stimme. Formelhaft wiederholte ich dieses eine Wort, flü-
sterte es endlich vor mich hin. ›Altashheth.‹
Zurvan dachte ernsthaft darüber nach, dann sagte er: ›Nein, es gibt nicht einfach ein Wort dafür. Man kann nicht »Altashheth« singen, wenn nicht die ganze Welt einstimmt.‹
›Wird das denn je geschehen, dass die ganze Welt mit einer Stimme singt?‹
›Das weiß keiner. Nicht die Meder, nicht die Hebräer, nicht die Ägypter, nicht die Griechen, und auch die Krieger der östlichen Länder nicht. Niemand weiß das. Vergiss nicht, du hast erfahren, was von Bedeutung ist. Der Rest sind Getön und Geplapper und Lärm und Gelächter. Nun gib mir dein ehrliches Versprechen, dass du mir dienen willst, und ich verspreche dir ebenso ehrlich, dass, solange ich lebe, du kein Leid erfahren sollst, soweit ich es verhindern kann.‹
›Ich verspreche es‹, sagte ich. ›Danke für deine Geduld. Ich glaube, einst, als ich noch lebte, war ich gütig.‹
›Warum weinst du denn noch immer?‹
›Weil ich nicht gerne hasse oder zornig bin‹, antwortete ich.
›Ich möchte lernen und lieben.‹
›Das ist schon ausreichend. Du wirst es schaffen. Nun ist die Nacht gekommen, ich bin alt, ich bin müde. Ich will, wie es meine Gewohnheit ist, lesen, bis mir die Augen zufallen. Ich möchte, dass du dich zum Schlaf in die Gebeine zurückziehst, bis ich dich rufe. Gehorche keinem anderen Ruf. Höchstwahrscheinlich wird es auch nicht dazu kommen, aber man weiß nie, worauf Dämonen aus sind oder welch böse Eifersüchte-leien die niederen Engel versuchen könnten. Reagiere nur auf meine Stimme. Wenn du meinen Ruf vernimmst, komm hervor und wecke mich, und dann wollen wir beginnen. Ich sorge mich eigentlich nicht allzu sehr um dich ... Mit deinen Fähigkeiten, deiner Stärke kannst du mir alles beschaffen, was ich in dieser Welt wünsche.‹
›Alles, was du wünschst? Aber was kann das sein? Ich kann mir nicht ...‹
›Es werden wohl vorwiegend Bücher sein, Sohn, errege dich nicht so sehr‹, sagte er. ›Ich brauche keinen Reichtum außer der Schönheit, die ich um mich herum sehe, was in der Tat bedeutet, dass ich reich bin, reich genug. Ich möchte Bücher aus aller Herren Länder, die wir zu bestimmten Orten, zu Höhlen im Norden und ägyptischen Städten im Süden bringen wollen. Das kannst du tun. Ich werde dir erklären, wie, und wenn ich einst sterbe, wirst du mächtig genug sein, den Gebietern zu widerstehen, die deiner Kräfte nicht würdig sind.
Nun begib dich in die Gebeine.‹
›Ich liebe dich, mein Gebieter‹, sagte ich.
›Oh, ja, ja‹, sagte er mit einer abwehrenden Geste, ›und ich werde dich auch lieben, und eines Tages wirst du mit ansehen müssen, wie ich sterbe.‹
›Aber liebst du mich ... ich meine einfach nur ... mich selbst ...
liebst du mich?‹
›Ja, du zorniger junger Geist, ich liebe ganz speziell dich.
Noch Fragen, ehe ich dich zur Ruhe schicke?‹
›Sollte ich noch etwas fragen?‹
›Diese Tontafel,
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