Engel der Vergessenen
nicht lächerlich. Die Gleichgültigkeit der Menschen hat einen Grad erreicht, der alle nur denkbaren Gemeinheiten zuläßt. Das war im Grunde schon immer so, nur ist man heute so ehrlich, das ganz offen zuzugeben. Können wir fahren?«
»Ja.« Bettina stand auf. Pala erschien im Zimmer, als habe er draußen an der Tür gelauscht und auf sein Stichwort gewartet. Er nahm die Koffer und trug sie hinaus.
»Wo ist Dr. Karipuri?« fragte Bettina und blieb stehen.
Taikky sah sie mit geneigtem Kopf kritisch an.
»Was wollen Sie von ihm?«
»Ihm zum Abschied ins Gesicht schlagen. Mehr kann ich nicht tun.«
»Weil er das ahnt, läßt er sich entschuldigen.« Taikky grinste anzüglich. »Andere Sehnsüchte dürften bei Ihnen wohl nicht mitspielen, Miß Berndorf?«
»Ich habe nie geglaubt, daß man Menschen so hassen kann, wie ich Sie und Karipuri hasse. Sie haben recht, Taikky: Es gibt Menschen, die nicht weiterleben dürfen!«
»Behalten Sie sich diese Erkenntnis! Sie erleichtert das Leben.« Taikky ging hinter Bettina aus dem Zimmer. Sie erreichten die große Eingangsdiele, ohne daß sie einen Arzt oder die neuen Krankenschwestern sahen. Taikky hatte ihnen verboten, sich auf dem Gang zu zeigen, solange Bettina noch im Haus war. Draußen auf der Treppe wartete Pala. Er hatte die Koffer hinten auf den Gepäckträger des Jeeps geschnallt und sah Bettina mit den Augen eines traurigen Hundes an.
»Gott mit Ihnen, Miß Betty«, sagte er stockend, als sie vor ihm stehenblieb.
»Haben Sie das gehört, Taikky?« fragte Bettina.
»Natürlich.« Taikky steckte die Hände in die Taschen. Er blickte hinüber zum Marktplatz und zu der kleinen Kirche. Auf dem Dach neben dem schiefen Bambustürmchen hockte der Küster neben seinem Riesenkürbis. Er hatte geblasen, als die deutsche Schwester ins Dorf gekommen war, und er würde auch blasen, wenn sie es verließ.
»Steigen Sie ein und fahren Sie los!« sagte Taikky grob. »Ich habe kein Interesse daran, daß im letzten Augenblick noch ein neuer Bürgerkrieg in Nongkai ausbricht. Mit Ihnen verläßt das letzte störende Element Nongkai. Hoffentlich treten dann endlich normale Zustände ein.«
Bettina kletterte auf ihren Sitz. Der junge Arzt, der den Jeep fuhr, ließ den Motor an.
Dr. Adripur legte Bettina die Hände auf die Schulter. Ganz ruhig, sollte das heißen. Sagen Sie nichts mehr. Verzichten Sie auf alle Worte. Und drehen Sie sich nicht um, wenn wir wegfahren, blicken Sie nicht zurück, seien Sie froh, wenn wir aus dem Tor hinaus sind. Zwingen Sie sich, leicht Abschied zu nehmen, nehmen Sie das Bild dieses Dorfes nicht mit, schütteln Sie es ab und werfen Sie es weg in den Staub, der hinter uns zurückbleibt. Wir müssen vergessen lernen. Sonst bleibt Nongkai für immer in uns und zerfrißt uns langsam wie eine Säure. Das Leben ist für uns noch weit offen und ein herrliches Neuland – darin hat Dr. Haller recht. Miß Betty, blicken Sie nicht zurück. Hinter uns wird nichts als eine Staubwolke sein. Weinen Sie – das befreit. Vielleicht schließe ich mich Ihnen an und weine auch. Mir ist zumute, als lasse ich einen Vater zurück, den ich verraten, geschlagen und getreten habe um des eigenen Vorteils willen.
Verdammt, laßt uns abfahren!
Der Jeep ruckte an, Bettina klammerte sich an dem Frontfenster fest, Taikky verbeugte sich. Dann fuhr der Wagen über die Straße zum Palisadentor, und auf dem Dach der Kirche setzte der Küster den Riesenkürbis an den Mund. Der langgezogene, dumpfe Ton lag über Nongkai. Alle Menschen im Dorf drehten sich um und blickten in Richtung zur Straße, und wenn sie auch nichts sahen, so hielten sie doch mit ihrer Arbeit ein.
Auch im Hospital, in den Krankenzelten, in den Verbandsräumen und den beiden OPs erstarrte jede Bewegung. Nur Dr. Karipuri, der gerade einen Leprösen mit einer Salbe bestrich, schrie den Krankenpfleger an, der neben ihm stand und die Schüssel abstellte.
»Wollt ihr beten?« brüllte er. »Die Schüssel her!«
Der Krankenpfleger rührte sich nicht.
Dr. Karipuri rannte hinaus, riß die Türen zu den OPs auf und sah, daß überall die Arbeit ruhte. Die Ärzte, Schwestern und Pfleger standen mit hängenden Armen herum, und so blieben sie stehen, solange der dumpfe, röhrende Ton vom Dach der Kirche über Nongkai hallte.
Karipuri traf Taikky vor der Treppe des Hospitals. Der Dicke wischte sich mit einem großen seidenen Taschentuch den Staub vom Gesicht, den der Jeep aufgewirbelt hatte.
»Warum schießt man den Kerl
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