Engel der Vergessenen
abzuspringen, um sich bis zu Dr. Haller durchzuschlagen.
Einen ganzen Tag lang und die folgende Nacht hatte Dr. Adripur diese Möglichkeit überdacht. Er hatte sie über Siri auch Dr. Haller mitgeteilt und ihm geschrieben: »Ich lasse mich nicht nach Indien abschieben! Nehmen Sie meine Hilfe an, lassen Sie mich zu Ihnen kommen. Gemeinsam wird es uns gelingen, dieses Rattennest auszuräuchern. Noch nie war Taikkys Unsicherheit größer als jetzt, wo Sie verschwunden sind und keiner weiß, was Sie vorhaben. Er hat 10.000 Kyat ausgesetzt für Ihren Kopf. Soviel war in Birma bisher nicht mal ein unbequemer Politiker wert! Dr. Haller, lassen Sie mich zu Ihnen kommen!«
Und Haller hatte zurückgeschrieben:
»Mein lieber Adripur!
Danken Sie Ihrem Brahma, daß man Sie abschiebt. Kümmern Sie sich um Ihre Lungen, nicht um mich! Sie wissen genau, wie es um Sie steht; es wird verdammt mühsam sein, diese Ansammlung von Kavernen zu schließen und verkalken zu lassen. In Nongkai gelingt das nie. Suchen Sie sich eine Arztstelle in der gesunden Bergluft Nordindiens. O mein Junge, Sie sind ein so patenter Bursche, Sie haben eine große Zukunft vor sich, wenn Sie wieder gesund sind. Was wollen Sie bei einem verbrauchten Mann, der keine Chancen mehr hat? Gehen Sie nach Indien zurück und kurieren Sie sich aus! Ich wünsche Ihnen das Glück im Leben, das ich nie hatte. Und noch eins: Kein Wort zu Siri! Zerreißen Sie den Brief! Wenn Sie ein Wort zu ihr sagen, sollen Sie krepieren. Ihr Haller.«
Adripur hatte den Brief mehrmals gelesen und dann in einer Blechschale verbrannt. Die Asche zerrieb er zwischen den Händen und streute sie in den Nachtwind. Er kam zu keiner Entscheidung. Was Haller sagte, war der natürlichste, logischste Weg, den er gehen konnte. Aber wenn sich alles immer nach der Logik richten würde, wäre das Leben die langweiligste Sache der Welt.
Erst als Dr. Adripur im Jeep hockte und der stumpfsinnige Tongyan mit seinem Schnellfeuergewehr hinter ihm saß, scharf gemacht mit dem Befehl: »Schieß, wenn jemand aus dem Wagen springt und schieß, wenn jemand in den Wagen springt!«, wußte er, daß ihm gar nichts anders übrigblieb: Homalin, Flug nach Lashio, Flug nach Rangun, Flug nach Neu-Delhi. Dort hatte man dann Zeit genug, sich von dem Gedanken zu erholen, vielleicht doch versagt zu haben.
Er stützte den Kopf in die Hände und kam sich sehr elend vor.
Taikky, den massigen Körper in einen seidenen Anzug gezwängt, setzte sich Bettina gegenüber.
»Wo ist Dr. Haller?« fragte sie, bevor Taikky zu seiner Abschiedsrede ansetzen konnte.
»Wenn wir das wüßten, hätten wir ein angenehmeres Gefühl im Magen.«
»Er ist tot. Ihr habt ihn totgeprügelt! Warum geben Sie das nicht zu?«
»Leider war mir das nicht vergönnt. Wir haben nicht mit dem unheimlichen Lebenswillen Dr. Hallers gerechnet und mit dieser rätselhaften Energie, die Leute seines Schlages entwickeln können. Er lebt. Und wir suchen ihn verzweifelt.«
»Um ihn zu töten!«
»Es bleibt uns gar nichts anderes übrig! Miß Berndorf, sehen Sie doch die Situation einmal mit unseren Augen! Die Vernichtung von Gegnern gehört zum täglichen Brot des Menschen. Seien Sie ehrlich, Miß Berndorf – gibt es eine größere Heuchelei als das, was der Mensch Moral und Ethik nennt? Wer lebt denn danach? Ein paar Fanatiker des Friedens, die man überall, wo sie auftreten, mit Wonne in den Hintern tritt. Das Leben ist ein ständiges Boxen nach allen Seiten. Wer das bestreitet, ist ein Phantast, der früher oder später auf der Schnauze liegt.«
Taikky beugte sich vor. Bettina nahm den Kopf mit einem so deutlichen Ausdruck von Ekel zurück, daß Taikky die Augen zusammenkniff.
»Übermorgen sind Sie in Hamburg«, sagte er.
»Noch auf dem Flugplatz werde ich eine Pressekonferenz geben.«
»Tun Sie das. Wem nutzt sie? Dr. Haller? Wohl kaum. Man wird einen Tag lang über den Arzt im birmesischen Dschungel schreiben, und dann wird ein Auffahrunfall auf einer Ihrer Autobahnen viel wichtiger sein, denn da gibt es wenigstens ein paar Tote. Miß Berndorf, wen interessiert ein versoffener vorbestrafter Arzt in Hinterindien? Machen Sie sich doch frei von der Illusion, ein Mensch sei so wichtig! Kein Hund bellt nach Dr. Haller! Kein Diplomat wird auch nur ein Wort über ihn verlieren. In Rangun hat man eine Erklärung vorbereitet, daß man einen Dr. Haller überhaupt nicht kennt.« Taikky erhob sich ächzend. »Zum Abschied einen Rat, Miß Berndorf: Machen Sie sich
Weitere Kostenlose Bücher