Engel der Vergessenen
…«
Die Operation dauerte eine halbe Stunde. In dieser halben Stunde verlor Dr. Haller die letzte Kraft, die ihn, rätselhaft genug, noch aufrecht gehalten hatte. Er benahm sich nicht wie ein Arzt, durch dessen Hände ungezählte Kranke gegangen waren, dem Leid und Schmerzen, Tod und Genesung zum Alltag geworden waren, sondern wie ein Geistesgestörter, den man zum Schutz gegen sich selbst eingesperrt und festgebunden hat. Während Dr. Kalewa zurück zum OP ging, um Dr. Butoryan zu helfen und die Narkose zu überwachen, blieb der junge Dr. Singhpur im Zimmer und hatte alle Mühe, Dr. Haller daran zu hindern, Fenster und Türen einzuschlagen. Später saß er dann nach vorn gebeugt auf dem Bett, starrte auf die Tür, vor der wie ein Erzengel Dr. Singhpur stand, mit forschenden wachen Augen, darauf gefaßt, daß Haller jeden Augenblick mit einem Satz aufspringen würde.
»Was machen sie bloß mit Siri?« sagte Dr. Haller plötzlich. »Gehen Sie hinaus und sehen Sie nach, was sie mit Siri machen.«
»Nein, Dr. Haller.«
»Ich bitte Sie, junger Kollege!«
»Ich darf Sie nicht allein lassen.«
»Vielleicht läuft etwas schief im OP! Es muß etwas schiefgelaufen sein, sonst wäre nicht diese vollkommene Stille!« Haller sprang mit einem Satz auf. Im gleichen Moment ging Dr. Singhpur in Boxstellung. »Warum kommt keiner?« brüllte Haller. »Warum läßt man mich allein?«
»Haben Sie bei Ihren Operationen den wartenden Verwandten Zwischenberichte gegeben?« fragte Singhpur.
»Das ist etwas anderes.«
»Aha! Wieso eigentlich? Es ist merkwürdig, daß sich die meisten Ärzte in gleichgelagerten Situationen so benehmen, wie sie es sich von ihren Patienten oder deren Angehörigen energisch verbitten.«
»Trommeln Sie nur auf mir herum, Sie junger Flegel! Nur immer zu!«
»Verdammt, hören Sie auf, sich ständig selbst anzuweinen! Es ist zum Kotzen, Dr. Haller! Sie haben aus Nongkai ein Paradies der Kranken gemacht, und was hört man nur von Ihnen: Ich bin ein Wrack! Ich bin eine Ruine! Ich habe nur noch wenig Zeit! Ich habe mich aus diesem Leben weggesoffen! Immer dasselbe … es wird jetzt langweilig, Dr. Haller! Drehen Sie die Platte einmal rum! Spielen Sie Marschmusik!«
Haller starrte den jungen Arzt entgeistert an. Was verlangen sie alle eigentlich von mir, dachte er. Verdammt, ich bin ein Mensch wie ihr auch! Was Nongkai geworden ist – das ist nur einer Trotzreaktion gegen Taikky und Karipuri zu verdanken. Sie griffen mich an, und ich schlug zurück … das war alles! Das ist das ganze Geheimnis meines verfluchten ›Engelseins‹. Aber sie begreifen es alle nicht. Für sie bin ich ein Übermensch! Ich darf keine Gefühle haben, ich darf nicht zusammenbrechen. Es ist zum Kotzen, immer nur Vorbild sein zu müssen!
»Ich möchte Sie in den Hintern treten, Singhpur«, sagte Haller heiser.
»Wenn es Sie erleichtert – bitte.«
»Fragen Sie im OP nach!« schrie Haller. »Ich halte das nicht mehr aus. Begreift das denn keiner: Ich habe nur noch Siri!«
Die Tür sprang auf. Dr. Butoryan und Dr. Kalewa kamen herein. Bevor Haller etwas sagen konnte, bellte ihn der kleine, dicke Butoryan an. Seine dunkle Hornbrille balancierte auf dem Nasenrücken.
»Was toben Sie so herum, Sie hysterische Diva?« rief er. Er streckte den Arm aus, als sich Haller von der Wand abstieß. »Bleiben Sie bloß stehen, wo Sie sind. Wir sind zu dritt!«
»Siri …«, sagte Haller unendlich müde. »Was ist mit Siri? Nur ein Wort, Butoryan: Lebt sie?«
»Warum nicht? Es war eine glatte Kürettage ohne Komplikationen. Ein Fötus zu Beginn des dritten Monats. Es wäre ein Mädchen geworden.«
»Eine Tochter.« Haller sank auf das Bett. »Ich hätte eine Tochter gehabt.«
Später saß er an Siris Lager, hielt ihre schmale, kalte Hand, blickte in ihre dunklen Augen und war wieder der alte Dr. Haller. Er trug wieder seinen weißen Arztmantel und hatte kurz vorher Butoryan aus dem Zimmer geschickt, als dieser bei Siri nachsehen wollte.
»Ich behandle weiter!« hatte er gesagt. »Ihre ewig rutschende Brille irritiert die Kranke. Mann, kaufen Sie sich doch endlich mal ein anständiges Gestell!«
»Er ist wieder da!« sagte Dr. Butoryan glücklich zu den anderen, die auf dem Flur warteten. »Er blökt mich wieder an! Gehen wir an unsere gewohnte Arbeit, meine Herren. Visite wie immer.«
»Chefvisite?« fragte Dr. Singhpur verblüfft.
»Was sonst? Wie ich Dr. Haller kenne, operiert er in einer halben Stunde wieder selbst!«
Er kannte
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