Engel der Vergessenen
Meinen ersten Anfall habe ich schon hinter mir. Da waren Sie noch nicht in Nongkai, oder Sie waren gerade eingetroffen. Da vereiste ich bei 50 Grad Hitze, konnte mich gerade noch in meine Hütte schleppen und lag da wie eine Stange Eis. Niemand hat es gemerkt. Der Anfall ging schnell vorüber und hinterließ keine sichtbaren Spuren.«
»Man müßte Sie fesseln und zwingen, sich behandeln zu lassen!« Dr. Butoryan ging zur Tür. Haller hielt ihn am Kittel fest und zog ihn zurück.
»Mein letztes Wort«, sagte Haller mit tiefem Ernst. »Ich werde arbeiten, bis ich umfalle. Schütteln Sie nicht den Kopf, Butoryan. Ihr Rat, jetzt nur mit gedrosseltem Motor zu fahren, ist falsch. Das kann man tun, wenn man so jung ist wie Sie und das Leben noch vor sich hat und weiß, daß man später wieder Gas geben kann.«
Er zog Butoryan zu sich heran und zwang ihn, sich auf den Stuhl neben ihm zu setzen. »Sie müssen eines berücksichtigen, junger Kollege: Als ich nach Nongkai kam, geschah das nicht, um hier als Wunderarzt zu wirken, sondern weil ich völlig pleite war und jede Arbeit angenommen hätte, um Geld für Whisky, Kognak, Gin oder Calvados zu haben. Das bißchen Stolz, das ich noch besaß, trieb mich dazu, mich als Arzt und nicht als Kuli zu bewerben. Der Dschungel war Endstation. In diesem mir unbekannten Nongkai wollte ich mich zu Tode saufen. Aber dann holte mich Dr. Adripur vom Flugplatz Homalin ab – ob er noch lebt, der schwindsüchtige Idealist? –, und dann erfuhr ich, daß Nongkai ein offenes Grab für Leprakranke war. Und dann kam ich hier an, empfangen wie ein Messias, und die Kranken humpelten mir entgegen, und ich sagte zu ihnen: Ich werde euch helfen! Ich werde euch heilen! Da war Schluß mit dem Saufen, verdammt noch mal! Da entdeckte ich, daß das Leben weitergehen mußte. Aber das ändert nichts daran, daß ich früher oder später zum Zahltisch für meine wilden Jahre gebeten werde. Wir Ärzte wissen es doch am besten: Der Körper läßt sich auf die Dauer nicht betrügen! Er macht jede Lüge nur eine Weile mit, dann kassiert er das Honorar für seine Mitwirkung an diesem Schauspiel.«
Haller ließ Butoryan los und lehnte sich zurück gegen die Wand. Er sah müde, zerknittert, erschreckend greisenhaft aus. »So, das wär's, mein Freund. Nun überlegen Sie sich, was Sie machen wollen.«
»Denken Sie nicht auch einmal an Bettina Berndorf?« fragte Butoryan. Hallers Kopf schnellte herum.
»Das hätten Sie nicht fragen dürfen, Butoryan.« Seine Augen waren eng. Butoryan erschrak. Es sah aus, als sei Haller plötzlich erblindet.
»Sie lieben Bettina«, sagte er mutig und wunderte sich selbst über diesen Mut.
»Nein!«
»Siri ist nicht im Zimmer. Sie brauchen nicht zu lügen.«
»Bettina ist in Deutschland. Ich werde sie nie wiedersehen.«
»Aber sie ist Ihnen immer gegenwärtig.«
»Woher wollen Sie das wissen, Sie Schwätzer?«
»Warum heiraten Sie Siri nicht?«
»Ach so! Der gute Knabe kombiniert!« Haller lachte gequält. »Sie denken zu kompliziert, Butoryan. Die Antwort ist ganz simpel: Ich wäre ein schäbiger Hund, wenn ich Siri mit dieser Gewißheit heiraten würde, daß sie bald Witwe werden wird.«
»Und es ist nicht schäbig, sie trotzdem im Bett zu haben?«
»Wir sind glücklich. Ist das eine Antwort?«
»Nur eine halbe. Doktor, Sie leben nur noch in halben Wahrheiten.«
»Logisch, wenn man selbst nur noch ein halber Mensch ist.« Haller stand auf, knöpfte seinen weißen Kittel zu und blickte auf seine Armbanduhr. »Kommen Sie mit zur Visite? Oder hat Sie mein Zustand zu sehr angegriffen?«
»Natürlich komme ich mit.« Dr. Butoryan sprang auf. »Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen einen großen Teil der Arbeit abnehme?«
»Gar nichts! Soll ich mich ins Eckchen setzen und ein Pfeifchen rauchen?«
»Ruhen Sie sich aus, Doktor.«
»Sie sturer Kerl!« Haller boxte den kleinen dicken Butoryan gegen die Brust und lachte. Die breite Hornbrille rutschte dem jungen Arzt auf die Nasenspitze. »Während Sie Ihren Vorschlag machen, wissen Sie bereits, wie meine Antwort ist.«
»Ja.« Butoryan senkte den Kopf und schob die Brille hoch. Er lächelte mit einer Traurigkeit, die fast ansteckend war. »Sie könnten mein Vater sein, Doktor.«
»Das könnte hinkommen.«
»Dann erlauben Sie mir, daß ich auf Sie aufpasse, wie ein Sohn auf seinen Vater aufpassen sollte – wenn der es eines Tages nötig hat.«
»Dann komm, mein Junge!«
Sie verließen das Labor, und auf dem Flur legte
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