Engel der Vergessenen
Haller seinen Arm um die Schultern Dr. Butoryans.
Es war nicht nur Rührung und Freundschaft, die es dazu kommen ließ – es war auch die allgemeine Schwäche, die ihn schon seit Tagen immer wieder heimsuchte.
Dr. Karipuri wurde in aller Stille begraben. Niemand war zugegen außer Dr. Haller und Oberst Donyan. Zwei ausgeheilte Lepröse schaufelten die Erde über den Sarg aus Bambusstangen, später traten sie den Boden fest, als wollten sie den Toten tief in die Erde stampfen.
Es war Nacht, als Donyan sich von Haller verabschiedete und zur Verwaltung ging, wo er ein Zimmer bekommen hatte.
»Ich werde übermorgen nach Bhamo zurückfliegen«, sagte Donyan. »Wenn die Regenzeit vorbei ist, wird man Nongkai aus der Isolation herausholen. Man plant die Verlegung einer Telefonleitung nach Homalin. Von dort gehen die Gespräche dann drahtlos weiter.«
»Das ist eine gute Nachricht, Oberst.« Dr. Haller blickte hinüber zu dem Glockenturm der christlichen Kirche. Handwerker hingen in den Gerüsten, sägten und hämmerten. Von der buddhistischen Pagode erscholl der dumpfe Klang des großen Bronzegongs. »Machen Sie die Glockenweihe noch mit, Donyan?«
»Natürlich.« Der Oberst lachte. »Das wird sogar ein militärischer Einsatz. Die Buddhisten planen eine Demonstration. Dabei sind Manoron und der Mönch die besten Freunde, wenn sie außerhalb ihrer Kirchen sind. Sie spielen auf neutralem Boden, bei dem Atheisten Simbyor, Schach und Go. Am Ende wird es so sein, daß die Glocke läutet und die Gebetsmühlen dazu rasseln. Doc, Sie haben hier eine Welt aufgebaut, wie sie brüderlicher nicht sein kann.«
Allein ging Haller dann zurück zu seiner Hütte. Die Nacht war klar, nachdem es nach dem blutigen Sonnenuntergang eine Stunde lang geregnet hatte. Die Luft war sauber, herrlich gekühlt, durch den Regen gefiltert, der giftige Dschungelatem blieb in dem verfilzten Wald hängen und erreichte noch nicht wieder das Dorf. Vor dem dunklen Hospital blieb Haller stehen. In der Wachstation und im Schwesternzimmer brannte Licht, sonst war alles dunkel. Drei struppige Hunde trotteten an ihm vorbei, knurrten ihn leise an und verschwanden um eine Hausecke. Vom Glockenturm scholl das Hämmern und Sägen durch die sonst stille Nacht. Mein Hospital, dachte Haller. Mein Dorf. Meine Kranken. Meine kleine, unbekannte, immer feindliche, immer neu zu besiegende Welt. Es war ein Irrtum, zu glauben, daß nichts mehr zu tun war, daß alles in Routine erstarren würde. Im Dschungel ist jeder Tag ein neuer Kampf.
Haller setzte sich auf die Treppe des Hospitals und streckte die Beine weit von sich. Es war eine jener seltenen Stunden, in der Selbstgespräche wie eine kräftigende Medizin wirken.
Was wäre ich jetzt, wenn Dora Brander damals nicht gestorben wäre? dachte Haller. Ein Millionär! Ein grauhaariger Playboy, den man in Acapulco wie in St. Moritz, auf den Bahamas wie an der Costa Smeralda kannte und als Stimmungskanone schätzte. Dazwischen natürlich Arbeit. Die Modearzt-Praxis mit exaltierten Patientinnen, deren Augen schon zu glänzen begannen, wenn er sie nur ansah, und die seufzten, wenn er ihre Haut berührte. Das wäre die eine Möglichkeit gewesen.
Oder: die akademische Laufbahn, die er damals unterbrochen hatte, die ihm aber, bei seinem Ruf als Chirurg, immer offengestanden hatte. Eine Dozentur, eine Professur, Chef einer großen Klinik, wissenschaftliche Veröffentlichungen, Vorträge, Ehrungen.
An Dora Brander war das alles gescheitert, an ihrem rätselhaften Abortus, den man ihm als vorsätzliche Tötung einer Geliebten angelastet hatte. Der Staatsanwalt hatte auf Mord plädiert. Mord mit dem Skalpell! Welch ein Rindvieh! Zu einer Abtreibung braucht man kein Skalpell, sondern eine Kürette. Er hatte das laut ausgesprochen und damit beim Gericht seine letzten Sympathien verloren. Der Rechtsanwalt hatte es ihm später gesagt. Von diesem Augenblick an war Dr. Haller schon verurteilt.
»Ich habe dich nicht umgebracht, Dora!« sagte Haller laut. »Weiß der Teufel, wer's gewesen ist, wohin du nach dem Besuch bei mir gegangen bist. Ich kann es gar nicht gewesen sein, denn ich habe nichts getan. Ich habe dir nur vorgespielt, daß ich etwas an dir mache. Aber bevor du gestorben bist, hast du noch zu Protokoll gegeben, ich habe dich töten wollen. Die letzten Worte einer armen, sterbenden, verzweifelten Frau gegen die schnoddrige Aussage des Geliebten: ›Hohes Gericht, ich bitte, mir vorzumachen, wie man mit dem Stiel eines
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