Engel der Vergessenen
Rundgang durch das Dorf an. Minbya, der Bürgermeister, begleitete ihn, öffnete jede Hütte und zeigte ihm das Elend, in dem die Kranken wie die Gesunden nun schon seit Jahren lebten, genau gesagt, seit ›Direktor‹ Taikky die Verwaltung übernommen hatte. Vorher, unter den fleißigen Nonnen und in der kurzen Zeit, in der ein Arzt aus Misore das Hospital geleitet hatte, war das Leben erträglich gewesen, wenn man das Warten auf den Tod erträglich nennen kann.
Mit Taikky begann zwar der Ausbau des Hospitals zu einem Dorf, zugleich aber auch der maßlose Diebstahl fast aller Unterstützungen, die die Regierung in Rangun und eine Reihe von kirchlichen Organisationen an das Lepradorf überwiesen.
Dr. Haller war gerade aus einer Hütte gekommen und zündete sich eine Zigarette an. Es war eine Selbstgedrehte von Minbya, Eigenbau von Nongkai, ein herber, würziger Tabak, der etwas nach Burley schmeckte und die Schleimhäute gerbte. Dr. Haller inhalierte tief und lehnte sich an die Hüttenwand.
»Ich habe es schon gehört«, sagte Adripur. »Die Leute auf den Feldern singen Ihr Lob wie die Märchenerzähler auf den Märkten die Heldenlieder der großen Krieger. Haben Sie einen Erben für Ihre Lebensversicherung?«
»Ich habe mich nie um eine Altersversorgung gekümmert, junger Kollege.« Haller behielt die dick gedrehte Zigarette im Mundwinkel und beobachtete drei Kinder, die mit einer ihm unbekannten Nuß und einer Reihe Holzklötzchen Kegeln spielten. Eine alte Frau, wahrscheinlich die Großmutter, saß im Schatten eines Palmblätterdaches und überwachte die Kleinen. Sie war nach vorn verkrümmt, fast kahl, und zitterte mit dem Kopf, als durchzuckten sie fortwährend elektrische Schläge. Ein tuberkuloider Fall, dachte Haller. Befall der Nerven, Knochenatrophie, ein ›geschlossener‹ Fall. Vor ein paar Jahren hätte man sie noch retten können – wenn man etwas getan hätte. »Als ich jung war«, sagte er, »habe ich es abgelehnt, ans Alter zu denken. Dann ging es mir so gut, daß ich das Geld lieber in den Ausschnitt hübscher Mädchen steckte als ins Konto einer Versicherung. Adripur, ich habe gelebt wie ein Feudalherr. Als ich dann platt auf der Schnauze lag, war es wiederum zu spät, ans Alter zu denken, denn da war ich froh, als mich ein paar Kollegen verschämt durchfütterten, bis ich aus Deutschland verschwand. Wissen Sie, was das für ein Gefühl ist? Da steht man eines Morgens um sieben Uhr allein mit einer Aktentasche vor dem großen eisernen Tor des Zuchthauses, das gerade krachend hinter einem zugefallen ist. Zwei Jahre sind herum. Zwei Jahre Einzelhaft – ich hatte darum nachgesucht, allein zu sein, um diese zwei Jahre zu nutzen, mich umzukrempeln, wie ein Schneider einen alten Anzug wendet. Zwei Jahre Arbeit in der Tischlerei des Zuchthauses, nicht im Lazarett, das hatte ich abgelehnt. Tischlerei. An der Hobelmaschine stehen, an der Kreissäge, an der Furnierpresse. Das kann einmal deine Zukunft werden, dachte ich, du bist handwerklich nicht ungeschickt, du hast gute, empfindsame Hände, Chirurgenhände. Warum soll eine Hand, die einen Thorax eröffnen kann, nicht auch eine Tischplatte herstellen können? Du hast Knochen genagelt, also nagelst du jetzt Holzteile zusammen. Einen guten Schreiner braucht man immer. Denn eins war mir klar: Arzt konnte ich nie wieder sein. Die Approbation war weg, zwei Jahre Zuchthaus wischt man so schnell nicht unter den Tisch, da kann man später herumrennen von Ärztekammer zu Ärztekammer, von Ministerium zu Ministerium, man kann Gnadengesuche loslassen und die Ämter mit Petitionen bombardieren. Man bleibt ein Zuchthäusler. Tja …« Dr. Haller zog an der in seinem Mundwinkel hängenden Zigarette, »und so bin ich das geworden, was Sie hier sehen, Adripur.«
»Warum saßen Sie im Zuchthaus?« fragte der junge Arzt.
»Todesfolge nach einem Abortus«, antwortete Haller knapp.
»Und dafür zwei Jahre?«
»Man legte es als Totschlag aus. Der Staatsanwalt plädierte sogar auf vorsätzlichen Mord. Die junge Dame war meine Geliebte, und sie erpreßte mich: entweder Kind weg oder einen Skandal. Sie war als Patientin in meine Praxis gekommen, und nach einer normalen Untersuchung lag ich mit ihr noch in der gleichen Stunde auf der Untersuchungsliege. Die junge Dame war natürlich verheiratet, jung verheiratet, und hatte mich wegen einer Bronchitis konsultiert.« Doktor Haller lächelte bitter. »So war das früher, lieber Adripur. Ich hatte unorthodoxe
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