Engel der Vergessenen
vor Siem Mong und drückte angespitzte brennende Bambushölzchen in die Muskeln. Siem Mong brüllte mit blutunterlaufenen Augen, sein Mund war schrecklich verzerrt, sein gemarterter Körper zuckte bei jedem Schrei.
Der Henker drehte sich herum, als er die Tür hörte, und verbeugte sich tief. Er war ein kräftiger, schöner Mann mit einem sanften Gesicht und lustigen Augen.
»Die junge Dame möchte dich bewundern«, sagte Hanyan. Er wandte sich zu Bettina, die das Gesicht gegen die Wand gepreßt hatte. Mit beiden Händen hielt sie sich die Ohren zu. »Miß Berndorf! Bitte, seien Sie kein Spielverderber. Wong ist ein Meister seines Fachs. Das müßte Sie doch interessieren – bei dem Hang der Deutschen zur Perfektion.«
»Ich fliege!« schrie Bettina gegen die grüne Seidenwand. »Ich fliege morgen schon! Lassen Sie mich hier raus! Ich fliege, wohin Sie wollen …«
»Ich wußte, man kann mit Ihnen vernünftig reden.« Hanyan legte den Arm um Bettina. Fast zärtlich führte er sie in die Diele zurück. Und auch Wong, der Henker, war so höflich, mit dem Spicken von Siem Mongs Körper erst fortzufahren, als sich die schalldichte Tür wieder geschlossen hatte.
Wie sie nach Rangun zurückgekommen waren, wußte Bettina später nicht mehr zu erklären. Das Grauen saß so tief in ihr, daß sie nicht mehr wahrnahm, was um sie geschah. Sie wußte nur: Ich sitze wieder in dem Wagen, ich werde nach Hause gefahren, ich habe als erste das ›Haus der sieben Sünden‹ lebend verlassen. O Gott, mein Gott …
An mehr zu denken, war ihr nicht möglich. Sie saß im Fond des Buicks und begriff nicht, was Hanyan unentwegt zu ihr sagte. Erst als die Lichter von Rangun auftauchten, als sie wieder durch den Villenvorort fuhren, wurden die Worte des Birmesen klarer und ergaben einen Sinn. Hanyan erzählte im Plauderton fröhliche Geschichten aus seiner Studienzeit in London und Paris.
Dann waren sie wieder in dem Gewühl der hellerleuchteten Straßen, und an den Fassaden der Teehäuser, Bars, Restaurants, Tanzpaläste und Kinos zuckten grellbunte Neonreklamen. Das Gewühl der Menschen war beängstigend, es war, als kröchen sie übereinander wie Maden und durchwühlten die ganze Stadt.
»Sie fliegen morgen um 17.15 Uhr nach Neu-Delhi. Dort haben Sie Anschluß nach München. Leider gibt es morgen keinen Direktflug. Ihre Flugkarten liegen bereits auf Ihrem Zimmer, Miß Berndorf.« Hanyan lächelte zufrieden. »Wir wußten, daß wir uns einigen würden, und haben alles gründlich vorbereitet. Die 10.000 Pfund sind bereits angewiesen auf Ihr Konto bei der Hanseatischen Sparkasse von Hamburg. Wir sind ehrliche Partner. Nur noch eine Klarheit: Sie können in Deutschland erzählen, was Sie gesehen haben. Niemand wird Ihnen glauben. Wenn Sie es aber in Rangun vor Ihrem Abflug erzählen, wird notgedrungen Wong mit Ihnen sprechen müssen.«
Bettina schüttelte den Kopf. Sie war zu schwach, um zu antworten. Hanyan klopfte mit dem Stöckchen gegen die Scheibe zum Chauffeur, der Buick fuhr an den Straßenrand und hielt. Sie waren wieder dort angelangt, wo Hanyan Bettina zu der Spazierfahrt eingeladen hatte. Die Leuchtreklame des Restaurants ›Zum aufblühenden Lotos‹ schillerte bunt. »Sie haben nur drei Stunden verloren«, sagte Hanyan höflich und stieg vor Bettina aus. Sie folgte ihm wie hypnotisiert. Die Erinnerung an den Anblick des zerschundenen, brüllenden Siem Mong stand vor ihr wie eine Wand, die zwischen sie und die übrige Welt geschoben worden war. »Das Restaurant ist noch offen. Tu-dong-Fu kocht bis zum frühen Morgen, und er kocht vorzüglich. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit, Miß Berndorf.«
Der kleine elegante Birmese beugte sich über Bettinas Hand, hauchte einen Kuß auf den Handrücken, stieg wieder in den Wagen, schlug die Tür zu und klopfte mit seinem Stöckchen gegen die Trennscheibe. Lautlos setzte sich der Wagen in Bewegung und verschwand um die nächste Ecke.
Regungslos, von den vorbeidrängenden Menschen angestoßen, stand Bettina am Straßenrand und blickte mit leeren Augen über das Gewimmel und die Flut des vielfarbigen Lichts. Sie verspürte plötzlich den unbändigen Drang, zu schreien. Zu schreien, bis man sie abführte, irgendwohin, wo sie geborgen wäre, in ein Krankenhaus oder zur Polizei. Aber dann ging auch diese Sekunde der versagenden Nerven vorüber, und sie fühlte sich nur unendlich müde und elend.
Langsam, mit letzter Kraft ihre Haltung bewahrend, betrat sie das Restaurant ›Zum
Weitere Kostenlose Bücher