Engel der Vergessenen
wegekelt, daß Taikky auf die Dauer der Mächtigere sein wird. Ihr klammert euch an mich, als sei ich das Leben selbst.«
»Das bist du, Herr.« Minbya sagte es ganz ruhig.
»Und um mich zu halten, bringst du für dich und deine Freunde das Opfer und legst mir Siri ins Bett. Wenn mich nichts festhalten kann in Nongkai – Siri wird es schaffen – das denkt ihr. Ihre schlanken Arme und Beine sind Fesseln, aus denen er nicht herauskommt. Ist es so, Minbya?«
»Siri liebt dich, Herr.«
Minbya blickte an Haller vorbei gegen die Hüttenwand. Dort hing ein billiger Buntdruck von Christus am Kreuz, eine jener grellfarbigen Devotionalien, wie man sie an Wallfahrtsorten kaufen kann. Die Schwestern ›Zum sanften Blut‹ hatten es damals an alle Kranken verteilt, als sie die Leprastation ›Jesus am Kreuz‹ gründeten, und Minbya war einer der ersten Leprösen und der erste getaufte Christ von Nongkai gewesen.
»Auf Befehl?« fragte Haller.
»Nein! Ich wollte sie zwingen, bei uns zu bleiben. Ich habe sie sogar geschlagen. Hat sie das nicht erzählt?«
»Nein«, sagte Haller. Ich habe es immer gewußt, dachte er. Aber ich wollte es von Minbya selbst hören. Ihre Liebe ist so selbstverständlich wie das Blühen und Wachsen im Dschungel. Sie ist unausweichlich, und man fragt nicht, warum es so ist. Wer wundert sich darüber, daß auf einem fauligen, verschimmelnden Baumstamm im Sumpf eine der schönsten Orchideen wächst! Nichts anderes ist es mit Siris Liebe. Nur wir immerfort denkenden und nach Erklärungen suchenden Zivilisierten finden uns nicht damit ab. Wir stehen vor einem Spiegel, betrachten unsere Visage und fragen uns: Wie kann ein solches Mädchen dich bloß lieben? Gerade dich?
»Kann man Siri zurückhalten?« sagte Minbya weiter. »Man müßte sie schon totschlagen, um ihren Willen zu bezwingen.« Er beugte sich vor und legte seine knotigen Finger auf Hallers Knie. »Sei gut zu ihr, Herr. Sie wird dir treu sein wie dein Schatten.«
Später ging Haller in die kleine Bambuskirche, setzte sich auf eine der langen Holzbänke und stützte sein Gesicht in die Hände. Die Müdigkeit war unbezähmbar. Ich werde gleich von der Bank fallen und auf den Boden rollen, dachte er. Dort werde ich schlafen. Keine zehn Pferde kriegen mich dann wieder hoch. Er mußte lächeln und dachte an die Kirchen, in denen er schon geschlafen hatte: betrunken, ein landstreichender Arzt!
»Beten Sie um die nächste Schnapssendung?« fragte eine Stimme hinter ihm. »Oder versuchen Sie, für das, was Sie hier anrichten, heimlich Abbitte zu leisten?«
Haller brauchte sich nicht umzublicken; er wußte, wer es war.
»Bettina«, sagte er, »Sie sind erst seit ein paar Stunden in Nongkai. Wenn Sie mit mir in diesem Tempo weitermachen, haben wir in kürzester Zeit Knüppel in der Hand und dreschen aufeinander los.«
»Warum trinken Sie so hemmungslos, Dr. Haller?«
»Warum sind Sie so unheimlich korrekt, Bettina? Ich habe heute fünfzehn Stunden operiert und unzählige Kranke behandelt. Ohne Unterbrechung. Nur ein einziges Glas Reisschnaps hat mir Siri zwischen zwei Amputationen gegeben, und ausgerechnet kurz danach sind Sie in den OP gekommen. Können Sie mir verzeihen?«
Er blieb sitzen, nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen. Er hörte, wie Bettina zu ihm kam und sich neben ihn setzte. Ihre Stimme war ganz nah.
»Das wußte ich nicht, Dr. Haller. Ich bin sehr voreilig gewesen, nicht wahr? Verzeihung?«
»Schon gut.« Er scheute sich, Bettina anzusehen. Ihr erster Eindruck auf ihn war wie ein Schock gewesen. Ein Typ wie Luise, dachte er sofort. Blond und eine volle Portion Leben. Als die Sache mit Dora passierte, dieser tödliche Abortus, für den es medizinisch keine Erklärung gab, war sie zu stolz gewesen, ihm zu verzeihen. Nicht wegen des Todesfalles, sondern weil er neben ihr noch eine andere Geliebte hatte. Luise Wanderer, Kinderärztin in Hannover. Bettina Berndorf könnte eine Schwester von ihr sein. Die jüngere, hübschere Schwester.
»Ich nehme an«, sagte Haller, »Dr. Karipuri wird Sie als Waffe gegen mich einsetzen. Sie werden in seinem Auftrag alles anders machen als ich. Sage ich: Hand verbinden, verbinden Sie den Fuß.«
»Halten Sie mich für so dumm, Dr. Haller?«
»Bettina, Sie wissen noch nicht, wo Sie gelandet sind! Ich habe gerade begonnen, einen Vierfrontenkrieg zu führen. Gegen Gott, die Lepra, die korrupte Verwaltung, den Dreck, eigentlich gegen alles, was
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