Engel der Vergessenen
vier Pfleger und drei Pflegerinnen, also genug. Ferner haben wir zweieinhalb Ärzte zur Betreuung der Kranken.«
»Zweieinhalb?« Bettina tat Taikky nicht den Gefallen, über diesen makabren Scherz zu lächeln. »Ist einer der Ärzte ein Lepröser?«
»Aber nein, nein! Wenn der die Lepra bekäme – das wäre ja ein Wunder! In einem Körper, der nur noch aus Schnaps besteht, hält sich kein Bazillus, kein Virus, keine Kokke, nichts. Das meine ich damit … Doktor Karipuri ist der Chefarzt. Dr. Adripur – er wird nächste Woche ausgeflogen – ist der Assistent, und dann haben wir hier noch einen Hilfsarzt, vor dem ich Sie warnen möchte. Wenn er nüchtern ist – das werden Sie kaum erleben –, ist er ein Idiot, und wenn er besoffen ist, wird er zum Wanderprediger und sagt und vollführt die unsinnigsten Dinge.«
»Und warum ist dieser Arzt noch hier?«
»Eine gute Frage!« Taikky klopfte sich lachend auf die massigen Oberschenkel. »Weil er einen Vertrag hat! Weil er ein Deutscher ist wie Sie. Dr. Reinmar Haller: Zuchthäusler und Mädchentöter. So etwas lädt man in Nongkai ab!« Taikky beugte sich vor. »Dr. Karipuri kann Sie morgen früh wieder nach Homalin bringen. Bis zum nächsten Hubschrauber wird Ihnen der Militärkommandant gern ein Zelt aufstellen.«
»Ich bleibe«, sagte Bettina.
Sie wußte nicht, warum sie es sagte. Auf der Dorfstraße bildeten sich Gruppen von Menschen. Das Signalsystem von Nongkai war angelaufen.
Eine weiße Frau im Lepradorf! Die Wunder hörten nicht auf. Bei Minbya, dem Bürgermeister, erschien der Küster, seinen Riesenkürbis unterm Arm.
»Soll ich die Glocken läuten?« fragte er. »Wir sollten sie empfangen wie unseren Doktor.«
Minbya schüttelte den Kopf. Er dachte als guter Vater sofort an Siri. »Wir wissen nicht, was sie hier soll«, meinte er ausweichend. »Vielleicht ist es nur ein Besuch.«
»Sie hat Koffer mitgebracht.«
»Fährt man von Deutschland bis Nongkai mit einem Sack in der Hand? Warten wir es ab. Nicht alles Neue ist gut.«
Dr. Karipuri schien sich von der Fahrt etwas erholt zu haben. Er ging in das Zimmer, holte eine Flasche Mineralwasser auf die Veranda und goß sich ein Glas ein. Bettina bot er nichts an.
»Wo ist Haller jetzt?« fragte er.
»Er operiert seit sieben Uhr früh.«
»Hat ihn denn keiner daran hindern können?« schrie Karipuri und wurde dunkel im Gesicht.
»Nein.« Taikky hob die breiten Schultern. »Sie kennen doch die Situation.« Er spielte damit auf Hallers Leibgarde an, aber Bettina verstand es anders.
»Du lieber Himmel, er ist betrunken und operiert?«
»Ob er betrunken ist, weiß keiner. Ob vollgelaufen oder nüchtern – man kann das bei ihm nur durch kleine Verhaltensunterschiede erkennen.« Taikky griff unter den Tisch, nahm eine Handglocke vom Boden und läutete. Der Boy in seiner weißen Uniform erschien in der Tür. »Ein Glas für Miß Berndorf!« schrie Taikky. »Soll sie verdursten?«
Bettina trank von dem gut gekühlten Mineralwasser und blickte über das Verandageländer die Straße hinab. Die Leprösen standen erwartungsvoll vor ihren Hütten. Frauen, Kinder, Greisinnen – die Männer hatten sich zu Minbya ins Gemeindehaus begeben und besprachen die neue, ihnen noch unbekannte Situation. Der Küster saß mit seinem ausgehöhlten Riesenkürbis auf dem Dach der Kirche, lehnte an dem Bambushöcker, der den Turm darstellen sollte, und wartete auf ein Zeichen.
Im Hospital rollte Pala den zwölften Patienten in den OP.
»Die weiße Frau ist da«, sagte er und starrte Haller forschend an. »Ich habe sie gesehen. Eine schöne Frau.«
Ein Gegenstand fiel klirrend auf den Steinboden. Zum erstenmal war Siri etwas aus der Hand geglitten. Sie bückte sich und hob die Kocherklemme auf, trug sie zum Sterilisator und legte sie in eine Chromschale. Als sie zurückkam, war ihr Gesicht unbeweglich, wie damals, als Haller sie zum erstenmal angerührt hatte.
Damals – das klang, als sei es Jahre her. Haller, der wieder seine Gummihandschuhe in der Desinfektionslösung wusch, lehnte die Stirn gegen die Kachelwand. Für einen kurzen Augenblick überfiel ihn lähmende Müdigkeit.
Zwei Tage waren es nur. Was war in diesen zwei Tagen alles geschehen!
Er hörte, wie hinter ihm der nächste Patient auf den Tisch gehoben wurde. Eine Frau, ein uralter Fall, nie richtig behandelt, mit Nervenlähmungen und steinharter Leber. Sie jammerte und weinte. Haller nahm ihr die letzten Finger weg und das linke Ohr. Ein Make-up für den
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