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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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Auster.«
    »Was steckt also hinter dieser Geschichte?«
    »Was glauben Sie denn?«
    Tom zuckte die Achseln. »Vielleicht ein großer Menschenaffe. Eine Art, die hier schon gelebt hat, bevor die ersten Siedler kamen, und die sich dann in die Wälder zurückgezogen hat. Platz gibt es hier ja reichlich. Richtig?«
    »Zum Teil«, meinte Henrickson. »Ich persönlich glaube, dass es sich um die letzten überlebenden Vertreter des Neandertalers handelt.«
    Tom blieb verblüfft stehen. »Wie bitte?«
    Henrickson ging weiter. »Die Theorie ist nicht neu. Die Schwierigkeit besteht darin, ihr durch Belege im Detail zum Durchbruch zu verhelfen. Sie wissen ja, wie Archäologen sind – oder vielleicht wissen Sie es auch nicht. Es fehlen überzeugende Beweise; die Kette der fossilen Belegstücke; mein Professor hält das nicht für möglich und so weiter. Ich sehe das folgendermaßen: Wir haben den Neandertaler, die vielleicht am besten angepasste Menschenart, die jemals auf der Erde gelebt hat. Die Kerle hatten schon vor vierhunderttausend Jahren Speere. Sie breiteten sich über den halben Planeten aus, darunter auch in Europa zu einer Zeit, als das keine einladende Gegend war. Damals herrschten frostige Temperaturen, die Eiszeit war in vollem Gang, und außerdem gab es da noch Tiere mit sehr großen Zähnen. Nichts, aber auch gar nichts machte damals das Leben auf dem alten Kontinent leicht. Und doch überlebten sie mehrere hunderttausend Jahre lang. Sie hatten Bestattungsriten, sie kannten Zahnchirurgie, was damals schrecklich gewesen sein muss, da man sich das Warten noch nicht mit der Lektüre von
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verkürzen konnte. Sie stellten Schmuck her und handelten damit in ganz Europa. Dann tauchte der erste Cromagnonmensch auf – unser Vorfahre –, und eine Zeitlang lebten beide Menschenformen in friedlicher Koexistenz. Dann starb der Neandertaler plötzlich aus und hinterließ nichts außer ein paar fossilen Knochen, die in einer Damenhandtasche Platz haben. Und das soll angeblich alles sein.«
    »Was geschah wirklich? Ihrer Ansicht nach?«
    »Der Neandertaler ist nie ausgestorben. Er hat nie in großer Zahl existiert. Und er war gut im Verstecken.«
    »Im Verstecken? Wo denn?«
    »In zwei Gebieten. Zum einen in den großen Wäldern Nordosteuropas, Finnlands, aber auch Amerikas. Die Experten für Vorgeschichte behaupten, die Neandertaler hätten nicht die Mittel besessen, hierher zu kommen, doch da unterschätzen sie sie meiner Ansicht nach. Sie hätten der Küste folgen und dann über die Beringstraße nach Alaska übersetzen können. Von dort aus wären sie südwärts gewandert auf der Suche nach einer gastlichen Region. Als dann die erste Welle der Siedler kam, zogen sie sich in die Wälder zurück. Gibt es irgendwo bessere Bedingungen? Tausende Quadratkilometer Wald, in die selbst heute kaum Menschen eindringen. In der Kultur der indianischen Ureinwohner kann man einige interessante Hinweise finden. Beim Stamm der Chinooks gibt es Sagen über ein ›Geistervolk‹, das an bestimmten geheimen Orten wohnte und mit dem der Stamm Tauschhandel trieb. Oder nehmen wir das ›Tiervolk‹, von dem die Okanogans erzählen, die in den Bergen wohnten. Sie glaubten, dass vor ihrer Zeit hier ›Tiermenschen‹ gelebt haben, die über eine Kultur verfügten, ehe die Menschen hierher kamen und das Land besiedelten.«
    »Und das andere Versteck?«
    »Gerade vor unserer Nase. Welcher Sagentypus ist überall in Europa verbreitet?«
    »Keine Ahnung.« Tom war sich auch nicht mehr sicher, ob er noch auf dem richtigen Weg war. Sie hatten den tiefsten Punkt der Kluft hinter sich und stiegen wieder bergan. Das Gelände wurde mit jedem Schritt rauer und steiler, und das in allen Richtungen, woraus sich kein Anhaltspunkt ergab. Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzulaufen, während Henrickson mit der Leichtigkeit eines Redners, der sein Thema schon oft in Gedanken durchgegangen war, mit seinem Vortrag fortfuhr. Und wenn Tom ganz ehrlich war, dann hörte er darin auch die Unbelehrbarkeit eines Kopfes heraus, der sich für heller hielt, als er tatsächlich war.
    »Unholde, Elfen, Trolle. Meiner Ansicht nach sind das allesamt Beispiele für überlebende Neandertaler. Wesen, die vor uns hier lebten und ihr Geheimnis besaßen. Anfangs tauchten sie regelmäßig auf, doch dann zogen sie sich immer weiter zurück, bis sie fast gar nicht mehr gesehen wurden. Aber die Erinnerung an sie ist geblieben. Die Sprache ist in dieser Hinsicht

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