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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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halten wir es genauso.«
    Wind kam auf, und Schneeflocken wirbelten um sein Gesicht.

28
    P atrice fror wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Der Mann hatte ihr vor dem Verlassen der Hütte noch einen Mantel aufgedrängt, und für den längsten Teil des Marsches hätte sie gern auf ihn verzichtet. Solange man sich bewegt, ist der Mantel ohne Nutzen. Er bringt einen nur zum Schwitzen, während man an den Partien, die nicht bedeckt sind, an Gesicht und Händen – zumal wenn einem Letztere auf den Rücken gebunden sind – schrecklich friert. Doch für die zwei Stunden, die sie beide nun schon hier saßen und warteten, war sie ihm dankbar. Ohne den Mantel wäre sie wahrscheinlich schon tot. Ihre Nase hatte zu laufen begonnen, und das Eis war ihr in der Nase gefroren. Sie hatte ihn gebeten, ihr die Fessel zu lösen und vorn neu zu binden, damit sie die Hände besser warm halten könnte. Er hatte das abgelehnt. Sie wusste, warum. Arme und Schultern begannen zu schmerzen, sogar sehr. Es war ein Vorgeschmack auf das, was er mit ihr tun würde, wenn er nicht bekommen sollte, wofür er hierher marschiert war. Er dachte, das würde an dem, was hier geschah, etwas ändern. Sie war nicht dieser Meinung.
    Nach vier Uhr begann es zu schneien. Die Dämmerung war schon eingetreten. Manche Schneeflocken glitzerten zwar, aber andere sahen aus wie kleine, taumelnde Schatten. Sie erinnerte sich, dass die Einheimischen der Meinung waren, man müsse Schnee wie eine Kalamität ertragen. Sie empfand das nicht so. Auch nach Jahren war sie von den fallenden Flocken immer noch wie verzaubert. Manchmal machte es sie traurig, weil ihr Erinnerungen an Bill kamen und an die Kinder, als sie noch klein waren, aber wo stand geschrieben, dass Zauber immer nur froh machte?
    Der Mann hatte sie an die steile Wand der Schlucht gesetzt. So bekam sie den Wind nur von einer Seite. Er selbst hatte sich einen Platz am anderen Ufer ausgesucht, wo die Schlucht weniger steil war. Er saß dort, das Gewehr im Schoß, ohne das kleinste Geräusch zu machen. Er zeigte mit keiner Regung, ob er fror.
    Es hatte vielleicht schon zwanzig Minuten lang geschneit, und die Flocken fielen immer dichter, als er plötzlich aufblickte und eine Weile die Ohren spitzte.
    »Hören Sie was?«
    »In sehr weiter Ferne«, sagte er.
    »Ich verstehe wirklich nicht, wovon Sie die ganze Zeit reden. Tom hat einen Bären gesehen, daran besteht kein Zweifel. Ich habe Sie hierher geführt, weil Sie ein sehr böser Mann sind. Das Beste wäre, Sie würden hier erfrieren und niemals gefunden werden.«
    »Vielleicht«, räumte er ein. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie so etwas mit mir vorhaben.« Er lächelte. »Ich mag Sie. Sie erinnern mich an jemanden.«
    »An Ihre Mutter?«
    »Nein«, sagte er, »das nicht.«
    »Lebt sie noch?«
    Er antwortete nicht, und da hatte sie plötzlich die Gewissheit, dass die Mutter dieses Mannes tot war, aber nicht auf dem Friedhof lag, und dass der Mann wusste, wo sich ihre Überreste befanden.
    »Waren Sie ein Einzelkind?«
    Henrickson hatte sich jetzt zu ihr umgedreht.
    Sie zuckte die Achseln. »Ich bewege nur die Lippen, damit mein Gesicht vor Kälte nicht völlig erstarrt.« Das stimmte. Früher beim Unterrichten hatte sie jedoch auch entdeckt, dass man bei bestimmten Gelegenheiten bis ins Innerste eines Kindes vorstoßen konnte, wenn man nur hartnäckig auf es einredete. Dieser Mann war zwar kein Kind, sondern ein Psychopath. Aber vielleicht reagierte er ähnlich wie Kinder. »Na, vielleicht hören sie uns ja. Schauen mal vorbei, was wir hier quatschen.«
    »Ich wurde zu einem Einzelkind«, erzählte er ohne erkennbare Regung. »Ich hatte drei Mütter. Alle sind mittlerweile tot, und das hat mir Kraft gegeben. Ich bin im Wald geboren worden. Mein Vater brachte meine Mutter um, und dann kamen Leute, die ihn umbrachten. Sie nahmen mich und meinen Bruder mit und behielten uns eine Zeitlang bei sich. Dann entschieden sie, nur ihn zu behalten und mich auszusetzen. Andere Leute versuchten, mir ein Zuhause zu geben, doch das gelang ihnen nicht. Mit meiner letzten Pflegemutter lebte ich nicht weit von hier.«
    »Hat sie Sie schlecht behandelt?«
    »Patrice, ich bin ein Mann, der mit den gängigen psychologischen Begriffen nichts zu schaffen hat. Sie können sich das nicht vorstellen.«
    »An wen erinnere ich Sie also?«
    »An die Frau, die eine Zeitlang meine Großmutter war.«
    Patrice vermutete, dass er ihr damit so etwas wie ein Kompliment machte. »Warum wollen

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