Engel des Todes
Sie tun, was Sie sich vorgenommen haben?«
»Töten ist das, was Tiere tun. Raubtiere töten, um sich zu ernähren. Wildhunde töten die Welpen anderer Wildhunde. Fliegen legen ihre Eier in das Fleisch sterbender Säugetiere. Das kümmert sie nicht, und wir sollten es genauso tun. Arabische Sklavenhändler auf Sansibar warfen Sklaven, die krank geworden waren, samt ihren Ketten ins Wasser der Bucht, um keinen Zoll für Waren entrichten zu müssen, die sie nicht verkaufen konnten. Russische Bauern in Sibirien verkauften in den Hungerwintern der zwanziger Jahre Menschenfleisch. Wir Menschen sind Lebewesen, die Flugzeuge erfunden haben und diese Flugzeuge dann in Gebäude krachen lassen, in denen es von Lebewesen unserer Art wimmelt. Wir sind diejenigen, die Ausrottungen systematisch planen und ausführen. Menschen sind auch Tiere, wir töten und zerstören.«
»Ich wäre froh, wenn Sie das als etwas Böses brandmarken würden.«
»Das ist weder gut noch böse. Es ist einfach die Wahrheit. Eine Schusswaffe ist eine todbringende Brücke. Eine von vielen Erfindungen des menschlichen Geistes. Unsere Art wanderte in Europa ein, wo ein anderes artverwandtes Lebewesen seit Hunderttausenden von Jahren bereits zu Hause war. Binnen weniger Jahrtausende gehörte Europa uns. Was ist Ihrer Meinung nach geschehen?«
»Wir waren besser angepasst.«
»Nur in einer Hinsicht. Unser Vorteil war unsere Bereitschaft, andere artverwandte Lebewesen zu töten. Wir rotteten die Neandertaler aus, und dann töteten wir uns gegenseitig. Wir achten Aasfresser wie Hyänen oder Geier nicht. Wir bewundern Löwen, Tiger und Haie – Raubtiere, die ihre Schnauzen in warmes Blut tauchen. Dass wir die Sprache haben und Daumen und trügerische Vorstellungen von geistiger Größe, ändert daran gar nichts. Das ist keine Frage von gut und böse. Alle Lebewesen haben ein charakteristisches Verhalten, und dies ist eben unseres.«
»Dann tun Sie’s doch. Sie haben ja schon getötet, oder?«
Er antwortete nicht, und das war in mancher Hinsicht schlimmer. Halb erfroren, spürte Patrice doch, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Sie hatte es mit jemandem zu tun, der nicht wie andere Menschen fühlte. »Töten Sie doch einen weiteren Menschen. Wir sind Millionen und Abermillionen. Warum tun Sie das nicht?«
»Weil jetzt der Zeitpunkt für etwas anderes gekommen ist.«
»Sagen Ihnen das die Stimmen?«
»Seit langem hat das kein Mensch mehr getan. Andere Dinge sind geopfert worden. Symbole der Macht, Frauen, kleine Kinder. Aber das steht nur stellvertretend für den Wilden Mann, das wirkliche Opfer.«
»Um Himmels willen – und wie soll das funktionieren?«
»Es funktioniert.«
»Sie töten jemanden und stimmen damit irgendwie in die Musik der Sphären ein? Können Sie das wirklich glauben?«
»Das ist die Wahrheit, und wenn Sie nur ein paar Jahrhunderte früher geboren wären, würde Ihnen das einleuchten. Heutzutage glauben wir an Zahnhygiene. Wir glauben, dass es wichtig ist, welchen Telefonanbieter wir wählen. Wir bemühen uns, nicht auf die Risse zu treten.«
»Sie sind doch krank«, sagte sie.
»Durchaus nicht.« Seine Augen blitzten in der Dämmerung. »Im Übrigen spielt Ihre Meinung keine Rolle für mich.«
»Dann sagen Sie nichts mehr. Ich will nichts weiter hören.«
»Gut. Aber eines sollten Sie wissen. Die Großmutter, die ich erwähnt habe.«
Sie schluckte.
»Ich habe sie getötet. Mit zwölf habe ich sie die Treppe hinuntergestoßen. Ich wusste, dass sie das im Innersten wollte. Sie hatte einen schnellen und guten Tod. Wenn Ihre Freunde nicht bald auftauchen, werden Sie ebenfalls sterben. Aber Sie werden sehr, sehr langsam sterben. Menschen, die Tausende von Meilen fern von hier leben, werden sich im Schlaf wälzen.«
Ohne recht zu wissen, was sie tat, war Patrice mehrere Handbreit von dem Mann weggerückt. Mehr war ihr nicht möglich, aber immer noch fühlte sie sich ihm viel zu nah. In den letzten Jahren hatte sie manchmal geglaubt, für den Tod bereit zu sein. Sie sehnte ihn nicht herbei, aber ohne Bill hatte sie nicht mehr viel Grund, auf dieser Erde zu bleiben. Vielleicht war es ja Zeit für den letzten Tanz. Doch jetzt, da sie nur ein paar Schritte von einem Mann kauerte, für den menschliche Maßstäbe nicht galten, begriff sie, dass der Tanz mit dem Tod nichts Heroisches oder Erhabenes war. Der Mann würde sie vom Leben zum Tod bringen, nichts weiter. Und sie mochte sich noch nicht in die Scharen der Toten
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