Engel des Todes
zurückkäme. Dann wäre er der Fisch in der Reuse und nicht mehr sie.
Freilich wusste sie auch, dass sie die Felswand niemals mit der Pistole in der Hand erklimmen konnte. Außerdem war ihr Rücken eine bequeme Zielscheibe für jemanden, der zu töten verstand.
»Drücken Sie weiter die Wunde ab«, riet sie Phil und schlich in der anderen Richtung davon.
Diesmal mied sie die Felswände und stapfte stattdessen mitten durch den Fluss, dessen eiskaltes Wasser ihr hier bis fast an die Knie reichte. Es gurgelte und plätscherte unter ihr, der Wind heulte, und über allem schwebte ein Vorhang aus Schnee. Es schneite immer noch, so als müsse alles unter den weißen Flocken begraben werden.
Sich umdrehen und umherspähen war nicht möglich, denn die Kiesel und Steine unter ihren Füßen boten keinen festen Tritt. Sie bewegte sich in gerader Linie in der Mitte des Flussbettes und peilte die alte Frau an, um ungefähr die Entfernung von ihrem Ausgangspunkt abzuschätzen. Sie dachte auch daran, laut zu rufen, um Ward zu alarmieren, aber der Upright Man konnte ja auch in der Nähe sein. Nun wurde ihr klar, wie töricht es gewesen war, sich auf »Schießen und Rufen« zu verständigen. Am liebsten hätte sie die Idee dazu einem anderen in die Schuhe geschoben.
Sie konnte die Frau immer noch nicht sehen. Von plötzlichem Schrecken ergriffen beschleunigte sie ihre Schritte.
Da erblickte sie eine stehende Gestalt auf der linken Seite der Schlucht. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, dass die Gestalt ein Gewehr im Anschlag hatte, also konnte es nicht Ward sein. Schneller, als ihr klares Bewusstsein folgen konnte, drehte sie sich, hob die Waffe und schoss dreimal.
Zwei Schüsse endeten als gedämpfte Klatscher, der dritte kam als trockener Knall zurück. Die Gestalt sackte zusammen und rollte den flachen Abhang hinab.
Sie rannte durchs Wasser. Kälte, Schnee, der unsichere Grund unter ihren Füßen – sie achtete nicht darauf, nur der Mann am Ufer zählte. Die Waffe immer noch auf ihn gerichtet, näherte sie sich bis auf ungefähr drei Meter.
Ein Treffer allein reichte meist nicht. Sie wollte noch einmal schießen.
Ihr Finger am Abzug war gespannt, da setzte sich der Mann plötzlich auf und sah sie an.
»Um Gottes willen«, rief sie entsetzt. »John …«
Ein Geräusch, als lande jemand federnd hinter ihr. Ein Schlag, und die Waffe fiel ihr aus der Hand, ein Arm legte sich fest um ihren Hals, und die kalte Mündung eines Pistolenlaufs drückte gegen ihre Schläfe.
»Hallo, Ms. Baynam«, war eine Stimme zu hören. »Das war Maßarbeit.«
31
B einahe hätte ich mich selbst ins Jenseits befördert.
Wenn ich nicht im letzten Augenblick mit der linken Hand noch Halt gefunden hätte, wäre es passiert. Ich war schon oben auf dem Felsvorsprung und wäre mit dem nächsten Schritt unweigerlich in die ewige Nacht hinausgesegelt. Schon halb in der Luft hängend, sah ich für den Bruchteil einer Sekunde den schwindelerregenden Steilabhang und hörte tief, tief unten Wasser rauschen.
Ich bekam mit der Linken einen Ast zu fassen und zog mich zurück auf den Felsvorsprung.
Ich drehte mich auf den Rücken und versuchte mich von dem Schrecken zu erholen. Meine Lungen schmerzten, als wären sie voller Glassplitter.
Dann lehnte ich mich vor und sah, ja, dass ich die Schlucht erreicht hatte, aber weitab von der richtigen Stelle. Hier war sie über zwölf Meter breit und fiel auf beiden Seiten so steil ab, als hätte sie ein Riese mit einem einzigen mächtigen Beilhieb herausgehauen.
Es half nichts, ich musste wieder zurück.
Ich hielt mich ein paar Schritte vom Rand der Schlucht und kämpfte mich durch das Gestrüpp. Die Bäume waren hier nicht so hoch, aber das machte mir die Sache nicht leichter, denn dafür stand das Unterholz umso dichter. Schon bald kam ich immer weiter von der Schlucht ab und geriet auf den Weg, auf dem ich gekommen war.
Ich kämpfte mich vorwärts, spurtete, wenn sich das Dickicht an manchen Stellen lichtete, und kam doch nicht rasch voran. Ich fürchtete schon, den ganzen Weg zurücklaufen zu müssen, als ich plötzlich stehen blieb.
Beim Spähen durch die Baumreihen hatte ich für einen Augenblick etwas am Rand der Schlucht gesehen. Ich arbeitete mich bis zu der Stelle vor, obwohl ich wusste, dass die Schlucht zum Überspringen immer noch zu breit sein würde.
Erst als ich davor stand, begriff ich, was ich gesehen hatte.
Quer über der Schlucht lag ein mächtiger Baumstamm. Tatsächlich war er
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