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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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trocken wie alte Knochen. »Da stand er auf der anderen Straßenseite und schaute zu. Er war gewachsen, schon ein junger Mann. Er sah genauso wie Sie aus, nur schmaler. Ich sah ihn nur eine Sekunde lang, dann war er verschwunden. Vielleicht habe ich ihn auch gar nicht gesehen. Manchmal bin ich sicher, sein Gesicht erkannt zu haben. Dann denke ich wieder, dass ich es mir nur eingebildet habe, deshalb habe ich auch zu niemandem davon gesprochen. Nicht einmal zu Muriel, obwohl sie wie eine Tochter zu mir war. Sie ist es immer noch, wenn sie sich Zeit nimmt.«
    »Er war es«, pflichtete ich leise bei. »Das war Paul.«
    Sie packte mich am Arm. »Sie dürfen nicht denken, dass es nur daran liegt, dass er bei Fremden in Pflege war. Diese Menschen haben sich so bemüht, ihm ein Zuhause zu geben. Daran lag es nicht. Pflegeeltern haben auch Muriel und Tausende andere aufgezogen.«
    »Ich weiß«, sagte ich. »Meine Eltern waren auch nicht meine leiblichen Eltern, und doch haben sie mir mehr Liebe und Zuwendung gegeben, als ich jemals verdient habe.«
    Sie sah mich erstaunt an, fasste sich aber wieder. Sie erhob sich, und ich begriff, dass es für mich Zeit war zu gehen.
    Ich stand schon auf der Veranda, als sie mir noch einmal die Hand auf den Arm legte und mir etwas zum Abschied sagte.
    »Ich habe mein ganzes Leben mit jungen Leuten verbracht, und alles in allem habe ich es genossen. Aber meine Sicht der Welt hat sich in einer Hinsicht damals geändert, und zwar für immer.«
    »Inwiefern denn?«
    »Ich glaube immer noch, dass wir alle Menschenkinder sind«, sagte sie, schon die Zwischentür schließend, »aber ich glaube nicht mehr, dass wir alle Gottes Kinder sind. Nein, das glaube ich wirklich nicht mehr.«
     
    Ich ging ins Hotel zurück, weil mir nichts Besseres einfiel. Als ich in der Hotellobby ankam, war ich ratlos und landete schließlich in der Bar, wo ich durch getöntes Fensterglas auf die Straße schaute. Jeder hat seine immer wiederkehrenden Erfahrungen, wie schon gesagt. Diese hier gehörte zu mir.
    Ich hatte die Peilung verloren und war genervt. San Francisco hatte sich als Sackgasse herausgestellt. Mrs. Campbell erinnerte sich nicht an den Namen der Familie, die Paul am Ende aufgenommen hatte. So oder so war die Familie aus San Francisco fortgezogen, und sie wusste nicht wohin. Ihre Kollegen von damals waren entweder tot oder lebten anderswo. Die Spur war abgerissen, nicht zuletzt auch durch den Brand. Ich glaubte, dass Paul zurückgekommen war und den Brand gelegt hatte, und ich wusste, dass Mrs. Campbell der gleichen Ansicht war. Sie hatte auch verstanden, dass der kleine Junge, den man allein auf der Straße gefunden hatte, das Herumgeschubstwerden nur so lange mitgemacht hatte, bis er alt genug war, seinen eigenen Weg zu gehen. Bis er der junge Mann geworden war, der die Dinge richtigstellen konnte.
    Beim Zahlen der ersten Bestellung erinnerte ich mich, dass ich mein Handy abgeschaltet hatte. Dadurch war mir ein Anruf entgangen. Ich erkannte die Nummer nicht wieder, aber es konnte nur eine von zwei Personen sein, daher rief ich zurück.
    Sie antwortete sofort. »John?«
    »Nein«, sagte ich. »Hier ist Ward. Meine Nummer erscheint auf dem Display, Nina, du brauchst nur hinzuschauen.«
    »Richtig, wie dumm von mir. Wo bist du denn?«
    »In San Francisco.«
    »Oh. Wie das?«
    »Ich habe mein Herz hier verloren. Da bin ich gekommen, um es wiederzufinden.«
    »Und hast du es gefunden?«
    »Ja. Sieht aus wie kaum gebraucht.«
    Sie lachte kurz.
    »Was gibt es Neues?«, erkundigte ich mich.
    »Nichts«, sagte sie. »Na ja, stimmt nicht ganz. Hier ist etwas Verrücktes passiert. Ein Doppelmord heute Morgen; jemand hat eine Nutte in einem schäbigen Motel tot zurückgelassen und dann noch einen Polizisten abgeknallt, um das Maß voll zu machen. Er hat eine Festplatte in die Frau gesteckt.«
    »Bezaubernde Idee«, sagte ich.
    »Nicht wirklich. Die Ermittlung ist Sache des Los Angeles Police Department, aber Monroe hat sich eingeschaltet, und folglich bin auch ich dabei. Ich habe mich gefragt, ob du dir nicht mal die Festplatte anschauen könntest. Ich habe illegal eine Kopie anfertigen lassen. Du hast dich doch früher beruflich mit solchen Sachen beschäftigt.«
    »Schon richtig«, bestätigte ich. »Obwohl dafür Bobby die bessere Adresse gewesen wäre. Und selbst eine bis aufs letzte Byte genaue Kopie ist nicht dasselbe wie das Original. Aber ich schaue es mir mal an.«
    »Auf der Festplatte hat man schon

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