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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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»Was geschah, als sie nach einer Adoptivfamilie suchten?«
    »Das kann ich Ihnen sagen.« Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort. »Ich habe diese Arbeit lange gemacht und viel darüber nachgedacht. Auf der einen Seite glaube ich, dass der Ort, wo wir geboren sind, uns etwas mitgibt, so wie Wasser in den Boden sickert, dass wir Blätter wie Bäume haben; da, wo der Same, aus dem wir uns entwickeln, zuerst hinfällt, das prägt uns und das bestimmt die Farbe unserer Blätter. Auch wenn ein Vogel uns noch am selben Nachmittag aufpickt und uns fünfzig oder hundert Kilometer weiter fallen lässt. Auf der anderen Seite denke ich aber, dass wir doch alle Kinder Gottes sind. Wir sind alle nur Menschen. Steht das nicht schon in der Bibel? Was macht es also aus, wenn ein Kind von jemand anderem als seinen leiblichen Eltern großgezogen wird oder in einem anderen Teil des Landes aufwächst? Man gebe ihm ein gutes Zuhause, und es wird ihm an nichts fehlen. Ich habe selbst gesehen, dass es in Hunderten von Fällen geklappt hat. Es ist nicht immer leicht, aber es funktioniert, und das ist einer der Gründe, weshalb ich glaube, dass wir Menschen am Ende doch kein so übles Pack sind.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Aber eine Adoptivfamilie für Paul zu finden war nicht leicht. Er wurde nacheinander in drei Familien untergebracht. In der ersten hielt es ein Jahr lang, dann Wechsel in eine neue Pflegefamilie. Die Eltern hatten schon eine ältere leibliche Tochter. Ich hatte damals mit meiner eigenen Lage zu kämpfen, mein Mann wurde krank. Den Kopf voller Sorgen kam ich an einem Montagmorgen zur Arbeit und hörte, dass Paul in einem Zimmer auf einem anderen Stockwerk wartete. Als die Leute vom Amt bei ihm aufgetaucht waren, hatte er auf der Treppe draußen vor der Tür gesessen. Nicht, dass er ausgerissen wäre, seine Pflegefamilie hatte ihn vor die Tür gesetzt. Danach wurde er ein paar Monate lang hin und her geschoben, bis wir schließlich jemanden für ihn fanden. Diesmal hielt es für zwei ganze Jahre, mittlerweile war er neun. Dann klopfte es eines Tages an meiner Bürotür, und draußen stand die Mutter. Sie teilte mir höflich mit, dass sie und ihr Mann genug hätten. Es liege nicht an Paul, überhaupt nicht, aber nun hätten sie ein eigenes Kind, ein kleines Mädchen, und deshalb wollten sie keine fremden Kinder mehr aufziehen. Ich war sauer auf sie, das kann ich Ihnen sagen. Am liebsten hätte ich ihr den Kopf abgerissen. So geht das einfach nicht. Aber … man kann ein Kind nicht in den Händen von Leuten lassen, die es nicht mehr mögen.«
    Sie hob ihre Tasse, merkte, dass der Kaffee schon kalt war, und setzte sie wieder ab. »Möchten Sie noch …«
    »Nein, danke«, sagte ich. »Erzählen Sie weiter.«
    »Ich besuchte Paul wenig später in der Pflegefamilie. Der Junge tat mir leid. Ich sagte ihm auch, dass man ihm übel mitgespielt hatte. Er zuckte nur die Schultern. ›Ich habe schon eine Familie‹, beteuerte er wieder. Dass er immer noch so dachte, beunruhigte mich. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass das nicht der Fall sei und dass er uns helfen müsse, eine Ersatzfamilie zu finden. Früher habe er einmal leibliche Eltern gehabt, das stimme schon. Aber nun brauche er neue. ›Die nicht‹, sagte er. ›Die waren nicht wirklich. Aber ich hatte einen Bruder. Der war echt. Er war genauso wie ich.‹ Und er legte die Betonung auf ›genauso‹: genauso wie ich, sagte er.«
    Sie lächelte schwach. »Selbstverständlich habe ich ihm damals nicht geglaubt. Ich dachte, er würde das nur erfinden. Er hatte damals so eine Art an sich … Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Aber als Sie heute Abend vor der Tür standen, da sah ich, dass er damals recht hatte. Er hatte wirklich einen Bruder, der genauso war wie er.«
    Ich nickte, weil mir nichts anderes übrig blieb, aber sie täuschte sich, und er ebenfalls. Ich ähnelte ihm äußerlich, nichts weiter. Trotzdem war ich überrascht, dass sie die Ähnlichkeit erkannte, da Paul ja noch ein Kind gewesen war, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
    »Schließlich fanden wir doch jemanden, der ihn aufnahm. Wir brachten ihn in einer Familie hier in San Francisco unter. Er wohnte dort ein Jahr lang, bis die Familie von Kalifornien wegzog, und er ging mit ihnen. Was vorher schiefgelaufen war, kam jetzt in Ordnung. Diesmal klappte es also. Und das war’s.«
    Ich schaute sie an.
    »Ja?«
    Ich schaute sie weiterhin an.
    Sie sah auf ihre Hände und fragte

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