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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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einen Text und ein Musikstück gefunden. Der Täter hat wirklich Sinn für Theatralik.«
    »Was für eine Musik ist das?«
    »Das
Requiem
von Fauré.«
    »Schön.«
    »Ich habe es noch nicht angehört.«
    »Solltest du aber. Sehr erhebend, wenn man bedenkt, dass es für Tote ist.«
    Sie schwieg eine Weile. Ich unterbrach sie nicht.
    »Alles in Ordnung, Ward?«
    »So halbwegs.« Ich berichtete ihr kurz, was ich von Mrs. Campbell erfahren hatte. »Das hat mich schon hart getroffen. Außerdem …«
    Ich zuckte die Achseln. Sie schien das zu hören. »Ja«, sagte sie leise. »Ich weiß. Ich … ich habe manchmal so einen Traum. Ich bin dann wieder oben in The Halls und liege, nachdem mich ein Schuss getroffen hat, im Empfangsgebäude auf dem Fußboden. Du und John, ihr seid zu den Häusern gegangen und sucht dort Sarah Becker. Bobby ist fort, ich weiß nicht wohin. Ich liege auf dem Boden, habe schreckliche Schmerzen, und es kommt jemand, um mich zu holen. Diesmal fürchte ich, dass er es wirklich schafft.«
    »Scheiße«, sagte ich, »das klingt ja gar nicht lustig.«
    »Keine drei Tage ist es her, dass ich den Traum hatte. Jedes Mal dauert er länger. Irgendwann wird er gar nicht mehr enden, er kriegt mich, und ich wache nie wieder auf.«
    »Träume dauern so lange, wie wir es zulassen«, sagte ich. »Die schönen wie die bösen.«
    »Sehr tiefsinnig, Meister Ward.«
    »Tja, tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was ich eigentlich damit sagen wollte.«
    Sie lachte, und diesmal klang es etwas überzeugender.
    »Gut, dann ruf an, wenn du die Festplatte hast«, sagte ich. »Ich komme runter nach L.A. Hier gibt es für mich nichts mehr zu tun.«
    »Die liegt hier auf meinem Tisch«, sagte sie.
    Ich war nur einmal kurz in Ninas Haus gewesen, aber ich konnte es mir gut vorstellen. Wie ich hier auf einem unbequemen Barhocker saß, ein halbes Glas Bier vor mir und um mich herum das übliche Gequatsche, wünschte ich mir, jetzt bei ihr zu sein. Dort oder in einem anderen Haus, das annähernd an ein Zuhause erinnerte.
    »Achte darauf, dass John es nicht in die Finger kriegt«, mahnte ich sie noch. »Ich bin morgen Abend in L.A. Kannst du ihn ans Telefon holen?«
    »Er ist nicht da«, teilte sie mir mit. »Ich hinterlasse ihm eine Nachricht, dass du kommst.«
     
    Ich ging auf mein Zimmer und rauchte, bis mir der Kopf brummte. Das besserte meine Stimmung nicht sonderlich, aber immerhin war ich den Nikotinteufel los. Ich öffnete das Fenster, schob mir einen Sessel dorthin und saß dann eine Weile da und schaute hinaus. Lichter und hohe, dunkle Gebäude. Ich hörte auch Geräusche von draußen und von unten, die auf Leben deuteten. Ich hatte das Gefühl, allein am Rand eines weiten Kontinents zu sitzen, ohne Stamm, ohne Herd, ohne Jagdgrund.
    Der Fokus meines Blicks rückte langsam näher, bis er sich auf meine Füße einstellte, die auf dem Fensterbrett lagen. Zehen müssen heutzutage ein seltsames Leben führen. Eine andere Wendung des Schicksals, und sie wären groß herausgekommen, gehätschelte Antipoden, die ihre Zeit damit verbracht hätten, Gegenstände zu tragen, Maschinen zu bedienen und die interessanten Teile menschlicher Körper zu berühren. Nichts davon tun sie heute. Stattdessen werden sie in enge, dunkle Lederbehältnisse gezwängt und vergessen, und wenn sie sich einmal frei bewegen dürfen, scheinen sie oft nicht mehr als die seltsamen Fransen an den Enden unserer Füße zu sein.
    Irgendwann schlief ich ein und träumte.
    Es war in einem alten Städtchen mit gepflasterten Straßen und schiefen Häusern, in der Mitte ein kleiner Platz mit einem Gemüsemarkt und Ständen mit Haushaltsartikeln. Ich war jung, ein Halbwüchsiger, und in die Königin dieses Marktes verliebt, ein zigeunerhaftes junges Mädchen. Sie strahlte vor Zuversicht, weil sie jede Gasse dieses Marktes kannte, sie war hier aufgewachsen und fühlte sich mit jeder Faser mit diesem umtriebigen Platz verbunden. Selbstbewusst und unnahbar und gleichzeitig so hinreißend, dass alle sie liebten. Einen Augenblick hatte ich den Eindruck, eine Erinnerung an etwas Erlebtes zu haben, als sie, das Gesicht so strahlend wie sonst nichts auf der Welt, umgeben von einem Schwall schwarzer Haare mit rotbraunem Schimmer, begleitet von einem Gefolge weniger attraktiver Mädchen durch die Gassen der Buden ging.
    Später, ich war mittlerweile zum Mann geworden, kam ich an diesen Ort zurück. Ich war selbstsicherer, aber auch nüchterner, und hatte an Magie verloren,

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