Engel des Todes
Gründe«, sagte ich, als müsste ich eine Entscheidung rechtfertigen, die nicht die meine gewesen war und die ich selbst kaum verstand. »Das war eine komplizierte Geschichte.«
»Zweifellos. Und außerdem haben sie ihn nicht in Tenderloin oder im Mission District ausgesetzt, das ist ja schon mal etwas. Jedenfalls wussten wir, dass er Paul hieß, weil sein Name vorn auf seinen Pullover gestickt war. Selbstverständlich haben die Familien damals den Kindern oft einen anderen Namen gegeben, aber Pauls Name passte. Wir machten die routinemäßigen Überprüfungen, ohne seine Herkunft recherchieren zu können, daher gaben wir ihn in Pflege. Er blieb dann ein paar Jahre hier. Normalerweise ist es nicht schwer, für ein kleines Kind in diesem Alter eine Familie zu finden. Aber mit diesem schien es anders gewesen zu sein.«
Ich hätte gern gewusst, wie sie das meinte, aber ich wollte ihren Erzählfluss nicht unterbrechen.
»Dann habe ich seine Spur verloren. An Findelkindern herrscht ja kein Mangel. Immer gibt es ein neues, um das man sich besonders kümmern muss. Als ich wieder von ihm hörte, war er zu einem Problem geworden.«
»Worin bestand das Problem?«
»Er war mehrere Monate in einer Pflegefamilie gewesen und kam lange vor der Frist wieder zurück. Anfangs dachte ich mir nicht viel dabei. So etwas kommt eben vor. Aber dann wiederholte es sich. Schau an, Paul ist wieder da. Die Pflegefamilie wurde mit ihm … ich wollte sagen, ›wurde mit ihm nicht fertig‹, aber das war es eigentlich nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Er kam einfach immer vorzeitig zurück. Dabei müssen Sie bedenken, dass diese Familien schon viele Kinder in Pflege genommen hatten, sie kannten sich damit aus, Kindern ein Zuhause zu geben. Wir hatten ihn untergebracht und ihm in Gedanken schon Lebwohl gesagt, und fünf Wochen später musste ich die Familie aufsuchen, und da saß er auf dem Fensterbrett und schaute nach draußen. Ich fragte ihn, was denn passiert sei, und Paul sagte das Gleiche, was auch die Familie sagte: Er lief einfach nicht mit ihm.«
Sie nahm einen Schluck Kaffee und schien dabei ihre lange zurückliegenden Irrtümer zu betrachten. Wir haben alle unsere heiligen Ikonen der Schuld. »Jedenfalls kamen wir damals zu dem Entschluss, fortan nach Adoptiveltern zu suchen, also eine langfristige Lösung anzustreben. Ich sprach mit Paul darüber und teilte ihm mit, was wir mit ihm versuchen würden. Er nickte – bedenken Sie, dass er damals sechs, sieben Jahre alt war –, und doch hatte ich das Gefühl, dass er mit der Idee nicht einverstanden war, dass er alles nur hinnahm und sich innerlich heraushielt. Ich fragte ihn deshalb, ob er sich denn keinen dauerhaften Platz in einer Familie wünsche. Da schaute er mir gerade in die Augen und sagte: »Ich hatte eine. Jetzt ist sie weg. Wenn erst alles in Ordnung ist, hole ich sie mir wieder.«
Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken. »Er hat sich an uns erinnert?«
»Nicht unbedingt. Aber er wusste, dass es früher einmal anders gewesen war. Man braucht kein großes Licht zu sein, um zu merken, dass eine Situation wie seine nicht natürlich war, und er war ein sehr intelligenter Junge. Das merkte man. Kinder haben oft das Gefühl, ausgesetzt worden zu sein, nicht da zu sein, wo sie eigentlich hingehören. Selbst solche, die gar nicht adoptiert worden sind, bekommen dieses Gefühl. ›Eigentlich bin ich eine Prinzessin‹, sagen sie sich, oder: ›Ich bin der rechtmäßige König, und wenn ich weine, dann weint die ganze Welt mit mir.‹ So ähnlich muss es auch bei Paul gewesen sein.«
Ich hatte die Aussetzungssequenz des Videos oft angesehen, ohne mir klarzumachen, was es für das Kind, das da allein gelassen wurde, bedeutet haben muss. In den vergangenen drei Monaten war es mir egal gewesen, was er damals gefühlt hatte. Ich strengte mich an, auch jetzt so zu denken.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an.« Sie lächelte. »Mein Mann hat auch geraucht. Ich mag den Duft. Sie wissen aber, dass das Rauchen Sie früher oder später umbringt?«
»So weit wird es schon nicht kommen«, beruhigte ich sie. »Das ist nur ein Gerücht, das die Fitnessapostel und die Gesundheitsfanatiker in die Welt gesetzt haben.«
Sie nickte, lächelte aber nicht mehr. »Ja, das dachte er auch immer.«
Zwar rauchte ich die Zigarette zu Ende, aber irgendetwas an der Art und Weise, wie sie es gesagt hatte, musste mir den Geschmack daran verdorben haben.
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