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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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Großmutter hält nach fast jedem Schritt inne und keucht. Sie möchte sich oben beim Brunnen ausruhen, sagt sie, hier könne man sich nicht hinsetzen.
    Am Beginn des Steilhangs gehe ich hinter ihr und überhole sie an weniger abfallenden Stellen, dabei überlege ich, was ich täte, wenn Großmutter nicht mehr weiterkönnte. Entgegen meinen Befürchtungen zeigt sie eine erstaunliche Zähigkeit, die man ihr angesichts ihrer ausgemergelten Gestalt nicht zugetraut hätte. Wir steigen langsam und beharrlich weiter, bis wir die Wegbiegung am oberen Ende der Anhöhe erreichen, hinter der ein Brunnen zum Vorschein kommt. Das Wasser fließt über eine Holzrinne in den Holztrog. Großmutter setzt sich neben dem Brunnen auf den Waldboden und betrachtet die am höchsten gelegenen Anwesen auf der gegenüberliegenden Talseite, die sich nunmehr auf unserer Höhe befinden. Ihr fällt auf, dass sich überall etwas verändert hat, da hat man dazugebaut, dort abgerissen, sagt sie und zeigt auf eine neue Zufahrtsstraße. Die Straße hat eine Wunde in den Hang gehauen, sagt Großmutter und schüttelt den Kopf.
    Nach dem Brunnen verläuft der Weg nahezu eben. Mit ausholenden Schritten nähern wir uns dem Hrevelnik-Anwesen. Es liegt am oberen Ende einer sanft ansteigenden Wiese. Auf der gekalkten Stirnwand des Haupthauses vibriert der Schatten einer Sonnenuhr. Die Gebäude stehen leer und verlassen. Niemand lebt mehr auf dem Hof, der wegen seiner Sonnenuhr weitum bekannt gewesen ist, sagt Großmutter und geht zielstrebig auf das Stallgebäude zu. Hinter dem Stall führte ein Weg in den Remschenig-Graben, aus dem sie damals gekommen seien, die Frauen aus Lepena, die das Lager überlebten, beginnt sie zu erzählen. Man habe sie bei Koprivna illegal über die Grenze gebracht. Als sie über den Zaun kletterten, der Jugoslawien von Österreich trennt, hätten sie gelacht und geweint. Sie seien sich um den Hals gefallen, nachdem es nach der langen Irrfahrt plötzlich so einfach schien, die Heimat zu betreten. Nach der Grenze ist uns das Gehen nicht schwergefallen, sagt Großmutter. Sie seien den ganzen Tag auf dem Weg gewesen. Als sie den Hrevelnik-Hof erreichten, sei es dunkel geworden. Im Stall habe sie jemanden melken gehört. Sie sei eingetreten und habe Guten Abend gesagt. Der Kuhmagd sei der Melkeimer umgefallen, so sehr habe sie sich gefreut, die Milch hat nur so gespritzt, sagt Großmutter. Milka ist aufgesprungen und hat geschrien, Mitzi, Sie sind wieder da! Wir haben gedacht, Sie sind tot! Es sind noch mehr, habe sie entgegnet und auf die Frauen, die vor dem Stall gestanden sind, gedeutet, auf die Gregoricka, die Mimi, die Mitzis, auf die Frida, die Malka. Alle seien zusammengelaufen, alle, die auf dem Hof gelebt haben. Der Mimi habe man beim Hrevelnik gesagt, dass es keinen Sinn habe, nach Hause zu gehen, weil beim Kach alles zerstört sei. Die Gregoricka ist zum Rigelnik gegangen in der Hoffnung, dass man sie dort aufnimmt, sagt Großmutter. Der Gregoric-Hof war zerstört worden, der Mann in Dachau ums Leben gekommen, die Kinder bei Fremden untergebracht. Die Frauen seien ganz durcheinander gewesen. Beim Hrevelnik habe sie auch erfahren, dass Großvater und die Buben schon zu Hause seien. Milka habe den Heimkehrerinnen frisch gemolkene Milch zu trinken gegeben. Sie werde den Geschmack dieser Milch nie vergessen, sagt Großmuter und verstummt.
    Wir setzen uns auf eine Holzbank, die neben dem Hauseingang hingestellt wurde, damit sich einsame Besucher auf ihr ausruhen können. Großmutter stöhnt lange und verhalten. Nachdem sie sich erholt hat, brechen wir auf. Auf der unteren Hrevelnik-Wiese bleibt sie stehen und sagt, dass sie damals befürchtet habe, zu Hause nicht mehr willkommen zu sein. Mein Mann wird mich ablehnen. Ich bin nicht mehr die Alte, habe sie gedacht. Ich werde ihn fragen müssen, habe sie beschlossen, damit Klarheit herrsche, von Anfang an. Im Wald sei es sehr dunkel gewesen, sie habe den Weg an manchen Stellen mit den Händen ertasten müssen. Es sei Anfang September gewesen.
    Als wir den Wald betreten, ist der Weg noch gut sichtbar. Hinter unseren Rücken fällt das Wiesenlicht zusammen, als ob es jemand ausgeschaltet hätte, nachdem wir das Hrevelnik-Anwesen verlassen hatten.
    Am Abend im Bett erzählt Großmutter die Geschichte ihrer Heimkehr zu Ende, wie sie den Hof betreten hat, wie sie endlich nach Hause gekommen ist. Sie habe noch Licht in der Wohnstube gesehen, sei zum Fenster getreten und habe in die Stube

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