Engel des Vergessens - Roman
geschaut. Ihr Mann sei auf der Ofenbank gesessen und habe über etwas gegrübelt. Er sei gerade dabei gewesen, sich die Schuhe auszuziehen. Einen Schuh habe er schon ausgezogen gehabt und den Fuß auf den Boden gestellt, der andere Schuh war noch angezogen, nur die Schuhbänder seien offen gewesen. Dein Großvater hat ins Leere geblickt, sagt Großmutter, er hat so merkwürdig geschaut, dass ich meinen ganzen Mut zusammennehmen musste, ans Fenster zu klopfen. Großvater habe kurz aufgeblickt, sie aber nicht gesehen. Dann habe sie das Klopfen wiederholt. Er sei langsam aufgestanden und in den Flur getreten. Er habe die Haustür geöffnet und gefragt, wer ist da. Sie habe aus der Dunkelheit geantwortet, willst du mich zurückhaben, erkennst du mich noch? Mitzi, du bist wieder da, habe ihr Mann gerufen und sie so stürmisch umarmt, dass sich ihr Kopftuch gelöst habe und auf den Boden gefallen sei. Er hat mich so heftig umarmt, dass das Kopftuch nur so geflogen ist, sagt Großmutter und lächelt. Dann seien die Buben, die schon im Bett waren, aufgestanden. Ja, sage ich, aufgestanden, und schlafe augenblicklich ein. Gute Nacht, lahko noc !
* * *
Der Abriss des alten Hauses nähert sich wie ein unabänderliches Übel. Vater und Mutter überlegen hektisch, wo sie die Möbel und Gerätschaften aus dem alten Haus während der Bauzeit unterstellen könnten. Das Auszugshäuschen wird als Übergangswohnung eingerichtet, die Möbelstücke, die in den beengten Räumen nicht aufgestellt werden können, werden auf die Tenne getragen.
Großmutter geht vor der Räumung tagelang im alten Haus umher. Sie berührt die Einrichtungsgegenstände oder setzt sich auf die Ofenbank und betrachtet die Stube.
Sie habe viele schöne Abende in dieser Stube verbracht, erzählt sie, als das Haus noch belebt war, als das Leben noch nicht so traurig war. In diesem Raum ist getanzt und gearbeitet worden, sagt sie, hier hat man sogar Theaterstücke aufgeführt und Gedichte rezitiert, als die Mädchen noch zu Hause waren. Die Katrca habe Gedichte und kurze Theaterstücke geschrieben, die habe man auswendig gelernt und gespielt.
Ich setze mich zu Großmutter und sehe in meiner Vorstellung verschwommene, gesichtslose Schattenrisse an uns vorbeihuschen, deren Gesichter erst später Konturen annehmen werden. Ich stelle mir vor, wie ein Theaterstück den Geisterzug aus Verwandten und Nachbarn zum Leben erweckt, der an uns vorüberzieht. Alle Gewesenen haben ihre Kleider und Möbel mitgebracht und spielen und singen für uns. Sie zeigen uns, wie man sich früher unterhalten hat, worüber man früher lachte. Sie werfen sich in Pose und drehen sich im Kreis, sie packen ihre Sachen und entschwinden in der Wand aus nichts und Nachhall. Ein Teil des Lebens scheint sich aus Großmutters zartem Körper zurückzuziehen, einem Lufthauch gleich, der zur Zimmerdecke aufsteigt. Ihr Atem vibriert wie eine flüchtige Erinnerung, ein Atemschatten nur, eine Atemwenigkeit. Sie könnte auf der Ofenbank erstarren, fürchte ich, oder vertrocknen, so wie sie sich zusammenzuziehen beginnt. Ihr leichter Körper könnte später wie eine tote Biene mit einer Handbewegung von der Bank gefegt werden.
Großmutter steht auf und nimmt mich an der Hand. Die Küche, weißt du, gebe ich ungern auf, dein Großvater hat sie für mich gebaut, sagt sie. Um den Sparherd tue es ihr leid, die Küchenkredenz wolle sie auf alle Fälle behalten. Ich folge ihrem Abschiedsblick, der den Hausflur mit der Holztreppe, die auf den Dachboden führt, streift, den Dachboden mit seinen geschnitzten und bemalten Truhen, die Schreine, in denen noch Vorräte gehortet werden, das Dachgerüst mit den Balken und Sparren, den Dachlatten und Brettern, die kleine Luke auf der Hinterseite des Hauses, den holzverschalten Balkon an der Stirnseite mit den Kräutern, die zusammengebunden und an Holznägel aufgehängt trocknen. Ich folge ihr in die Rauchküche, mit ihren geschwärzten Wänden, die mich je nach Lichteinfall an verschrumpelte oder glänzende Dörrzwetschken erinnern, gehe am Ofenloch vorbei, dessen Umgebung aussieht wie eine Aschenlandschaft nach einem Feuersturm. Dahinter die Speisekammer mit ihren unlackierten Holzregalen, auf denen Gefäße stehen. An der Wand das hölzerne Schüsselbrett mit den gebrannten Tonschüsseln, die voller Sprünge sind und von einem Drahtgeflecht zusammengehalten werden. In der Küche die grüne Küchenkredenz und der Vorratsschrank, dessen Läden und Türen kleine Löcher
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