Engel des Vergessens - Roman
angefüllt mit Bettzeug, als er die bestellte Ware liefert. Er beteuert, die schönsten Stücke für seine beste Kundin ausgewählt zu haben.
Seine Frau kommt mit dem Kartenlegen nicht nach, weil auch die Bauarbeiter auf gute Zukunftsaussichten hoffen. Die Decken- und Bettwäscheanhäufung protzt mit ihren weißen, blauen und goldroten Blumenmustern auf dem Balkon des Auszugshäuschens und wird noch tagelang von den Beschenkten bewundert.
Das neue Haus wird bezogen und eingerichtet.
Eines Abends höre ich Vater und Michi, der sich nach dem Fortgang der Dinge erkundigt, disputieren. Michi ist der Meinung, Vater hätte nicht sparen, sondern eine Zentralheizung einbauen sollen, das sei mittlerweile üblich und nicht so zeitraubend wie das Heizen mit kleinen Öfen, außerdem finde er ein neues Haus ohne Warmwasser altmodisch. Vater ist beleidigt, er habe keine Schulden machen wollen, beteuert er, überdies sei im Gegensatz zu früher fließend Wasser im Haus, auf den Luxus einer Zentralheizung könne er verzichten. Beim Rundgang durchs Haus findet Michi doch einiges, was ihm gefällt, vor allem das Bad und der neue Brotofen, der mit alten Kacheln aufgezogen wurde.
Mutter stellt ein nahezu neuwertiges Geschirr, das sie zur Hochzeit bekommen hatte, in die Küchenkredenz. Sie näht Vorhänge und Tischtücher für die Stube und bestickt sie mit roten Nelken. Sie streitet mit Vater wegen eines Holzschranks, den sie beim Tischler bestellt hat, um ihre Bücher, Stricksachen und unsere Schulhefte verwahren zu können. Großmutter richtet sich im Auszugshäuschen ein und ich ziehe ins eigene Zimmer, das nicht beheizt werden kann.
Das neue Haus steht auf unbehütetem Fundament. Der Hang, in den das alte Gebäude hineinzuwachsen schien, ist abgetragen worden. Wo früher ein Weg so nah an der Hinterseite des Hauses vorbeiführte, dass man sich mit der Hand an der Mauer abstützen konnte, klafft eine Böschung. Wie ein ausgeräumter Rachen, dem man die Kiefer herausgerissen hat. In diesem Rachen steht der Neubau ohne Rückendeckung da und kommt nicht zur Ruhe. Die schlecht isolierten Mauern können die Wärme nicht speichern. Im Stiegenhaus zeigen sich bald erste Flecken und Schimmelspuren. Der alte Keller weckt mit jedem Betreten die Erinnerung an früher. Im Wechsel der Jahreszeiten stößt er fremdartige Gerüche aus, die das darübergestülpte Bauwerk zu durchdringen versuchen. Die neuen Mauern leiten jedoch alles ins Freie, schieben von sich, was sie nicht bewahren können. Duftschleier irren im Hof umher, modrig, apfelsauer, erdäpfelsüß.
* * *
Ich bin froh, in den Ferien wieder ins Schloss fahren zu dürfen. In Gradisch hüpfe ich die Holzstufen zur Dienstwohnung des Onkels hinauf und tauche in die anheimelnden Duftmischungen des Dachbodens. Ich wünsche mir, stundenlang mit meinen Cousinen zu spielen oder auf dem Bett liegend Comichefte zu lesen.
Die Sommertage haben einen goldenen, glitzernden Rand bekommen, der mit jedem Tag stärker auf meine Haut abfärbt. Sie sind übermalt mit den Blumenfarben aus dem Garten der Tante und vermischt mit dem Wasser des gräflichen Teiches, in dem wir baden.
An einem heißen Mittag geht Iris, die Küchengehilfin des Grafen, mit mir und Johanna zum Teich. Sie werde ein Auge auf uns haben, heißt es, immerhin sei sie älter als wir.
Wir breiten die Handtücher auf dem Badesteg aus und gleiten vorsichtig ins seichte Wasser. Iris lässt meine kleine Cousine auf ihren Rücken kriechen und schwimmt mit ihr über den Teich. Johanna, kreischt und lacht, aber die Tiefen des Wassers sind bald überquert.
Nachdem Iris Johanna am Steg abgeladen hat, macht sie den Vorschlag, mich auf den Buckel zu nehmen. Ich zögere, weil ich nicht schwimmen kann, schließlich sehe ich mich auf ihrem Rücken fliegen und gleite ins dunkle Wasser. In der Mitte des Teiches sackt Iris plötzlich unter mir zusammen und krallt sich an meinen Schultern fest. Wir sinken augenblicklich, uns hartnäckig aneinander festhaltend, und versuchen immer wieder aufzutauchen. Iris hält mich unter Wasser, aber ihr Druck wird immer schwächer und während ich mich an ihr hochziehe und um Hilfe schreie, höre ich von ihr keinen Laut, keinen Schrei, kein Stöhnen, spüre nur ein Einsinken, von dem ich mich losreißen kann. Ich stoße mich ab und schwimme oder bewege mich auf eine Weise, die dem Schwimmen nahekommt; das Wasser um mich eine geleeartige Masse. Es dröhnt in meinen zugefallenen Ohren. Ich bin benommen vom Gedanken
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