Engel des Vergessens - Roman
haben, durch die die Luft zirkuliert, der Herrgottswinkel in der Stube mit den Heiligenbildern und dem Kruzifix, die Bänke an den Wänden, der viereckige Holztisch mit den Einlegeverzierungen, die Fensterflügel und Fensterläden mit ihren Schimmelspuren. Unsere Schlafkammer dahinter, deren Innenwand vom Kachelofen aus der Stube erwärmt wird und nie kalt ist, der Schrank, die Betten, das Wandkästchen, in dem Großmutter Arzneien und Tinkturen aufbewahrt. Die Türen des Hauses mit ihren Türpfosten und den schmiedeeisernen Schlössern, der Keller mit der gewölbten Decke und den Regalen, auf denen Obst lagert. Die Abteilungen für Kartoffeln, der Krautbottich, die Mostfässer.
Am Tag, als der Bagger auf den Hof fährt, steht Großmutter auf dem Balkon des Auszugshäuschens und schluchzt, jetzt ist es vorbei, jetzt ist es vorbei! Gott soll mir helfen, die heilige Maria soll mich beschützen! Ich bin so erschrocken, dass ich beginne, mit ihr zu weinen. Ich greife nach ihrer Schürze und heule so laut, dass Großmutter Vater, der uns ratlos beobachtet, entgegenschleudert, sogar das Kind begreift, was gerade geschieht, sogar das Kind! Der Baggerfahrer Toda legt Großmutter die Hand auf die Schulter. Beruhigen Sie sich, bittet er, beruhigen Sie sich, Mitzi, die Jungen wollen etwas Eigenes haben.
Großmutter hört auf zu weinen und jammert nur noch aufbegehrend, als der letzte Dachsparren abgeworfen wird und der Bagger beginnt, auf die alten Wände einzuhauen. Sie zieht mich zur Stirnseite des aufgebrochenen Hauses und zeigt auf eine Ziffer, die unter dem gelblichen Verputz zum Vorschein kommt. 1743, seit 1743 wird dieses Haus bewohnt, und jetzt soll es nicht mehr gut sein, empört sie sich und beginnt in den zerstörten Mauern nach Gegenständen zu stöbern. Damals habe man Gegenstände einmauern lassen, mutmaßt sie, die das Haus vor Unheil beschützen sollten. Sie kratzt ein paar Scherben aus dem Schutt und wirft sie enttäuscht weg.
In den Arbeitspausen setzt sich Toda zu Großmutter. Er erzählt, dass er sich in letzter Zeit große Sorgen um seinen Bruder mache. Er habe solche Zustände, dass er nicht mehr wisse, wo er sei. Er flüchte nachts in den Wald, weil er glaube, von den Deutschen verfolgt zu werden, und irre stundenlang völlig kopflos herum, man könne ihn nicht mehr beruhigen. Das ist das Lager, sagt Großmutter, das kann nur das Lager sein. Sein Bruder sei damals noch ein Kind gewesen, als man sie beide ins Internierungslager Altötting verschleppt habe, sagt Toda, was kann ein Kind schon begreifen! Viel, sagt Großmutter, viel.
Ich stelle mir den Bruder des Baggerfahrers gleich als jemanden vor, der auch die Geisterprozessionen sehen kann und mit den Verschwundenen mitzieht über Stock und Stein, bis er sie aus den Augen verliert, sie und ihre Gegenstände im dunklen Wald.
Als Toda mit der Schaufel zum Kellergeschoss vordringt, macht Vater den Vorschlag, den alten Keller mit dem Gewölbe stehen zu lassen und nur den Bereich für den zweiten Keller auszuheben. Vielleicht, um Großmutter zu beruhigen und ihr das Gefühl zu geben, dass das neue Haus auf dem Fundament des alten stehe. Der alte Keller überdauert den Abriss wie ein störrischer Backenzahn, der nicht mehr herauszubrechen ist.
Während der Rohbau über dem Kellergeschoss in die Höhe wächst und die ersten Mauern eingerüstet werden, wird auf Vater eingeredet, dass er das ebenerdig geplante Gebäude doch um ein Stockwerk aufstocken solle, schließlich werde seine Familie noch wachsen und die Kinder werden Platz brauchen. Vater ist einverstanden und fragt jeden neugierigen Besucher, ob das wohl richtig sei. Er bedient die eintönig mahlende Betonmischmaschine, befördert den Mörtel in einem Schubkarren, der cariola , zum Bau und zieht den schweren Brei in Plastikkübeln mit einem Rollenaufzug in die Höhe.
Seit das Sägen dem Wiederkäuen der Mischmaschine nachgefolgt ist, die Zementsäcke im Holzschopf Balken, Pfosten und Brettern Platz gemacht haben, spüre ich bei Großmutter ein Nachgeben. Just als der Richtbaum auf dem obersten Sparren befestigt wird, beschließt sie, nicht in das neue Haus einzuziehen. Sie werde allen, die es wissen wollen, sagen, dass man sie aus dem Haus geworfen habe, droht sie.
Ein paar Wochen vor dem Einzug besucht uns der alte Stoffwarenhändler.
Großmutter verhandelt über Decken, Tuchenten, Polster und Bettwäsche, ihren Beitrag zum neuen Haushalt, sagt sie.
Der Wagen des Zigeuners ist bis oben hin
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