Engel des Vergessens - Roman
Sohn verhaften, sondern auch seine Schwiegertochter Angela und die Enkelkinder Mitzi und Johan abführen wollte. Die Polizei habe zwei Ochsengespanne mit gestohlenen Vorräten und Decken beladen und dem alten Hojnik befohlen mitzukommen, aber er habe mit den Krücken im tiefen Schnee kaum gehen können. Er habe sich an den Wegrand gesetzt und gesagt, er lasse sich nicht von seinem Hof wegbringen. Daraufhin haben ihn die Polizisten mit seinen Krücken erschlagen. Sein Hirn sei an den umstehenden Bäumen geklebt, das habe ihr die achtzehnjährige Mitzi erzählt, in Ravensbrück, wohin sie gebracht worden sei, nach der Verhaftung, sagt Großmutter. Die Mitzi und ihr Bruder Johan, der einen voll beladenen Leiterwagen halten musste, haben mitansehen müssen, wie ihre Eltern und der Großvater umgebracht worden seien. Die Hojnik Mitzi sei übrigens an dem Tag, als Ravensbrück geräumt wurde, von einem SSler getötet worden, der wie wild um sich geschossen habe, weil er betrunken war und Mitzi sich in diesem Augenblick aus der Reihe bewegte. Am Tag der Räumung, verstehst du, einfach so, aus Zufall, sagt Großmutter und hebt die Stimme. Die Heimkehr ist ihr verwehrt geblieben. Jedenfalls wollte die kleine Klari, setzt sie nach einer Pause fort, die von der Polizei mit ihren jüngeren Geschwistern allein auf dem Hof zurückgelassen wurde, das Haus drei Tage lang nicht verlassen. Die Pecnica habe die verstörten Kinder, die sich starr vor Angst im Haus verschanzt hatten, die Klari, den zehnjährigen Roki, die dreijährige Rozika, den dreizehn Monate alten Mihec geholt und sie zum Pecnik gebracht.
Der Hojnik über dem Pecnik, der Kuchar unter dem Pecnik, die Höfe übereinander und unser Hof in der Nähe, da bleibe ich neben der angelehnten Tür stehen, da höre ich zu.
Während ich lausche, bricht in meiner Brust etwas ein, als ob ein aufgeschichteter Holzstoß abrollen würde nach hinten, in die Zeit vor meiner Zeit, die nach mir greift, der ich nachzugeben beginne, aus Faszination und aus Schrecken. Jetzt hat sie mich gepackt, jetzt ist sie angekommen bei mir, denke ich.
Das Kind begreift, dass es die Vergangenheit ist, mit der es rechnen muss. Es kann nicht nur seine Wünsche und die Gegenwart hochhalten. Die ausladende Gegenwart, die den Erwachsenen dazu dient, von einem Zeitufer aus das Gewesene zu überblicken, das damals, als es noch Gegenwart war, die Sicht auf alles verstellte. Noch ist die Kindheit wie selbstverständlich auf das Kommende gerichtet, aber auf dem Boden des Vergangenen erweist sich die Zukunft als Leichtgewicht. Was soll sie schon bringen, wohin wird sie führen? Reicht es nicht, wenn es zum Leben reicht, denkt Vater, denkt manchmal das Kind.
In den Büchern, die ich lese, bleiben die Körper der Menschen unversehrt, fahren mit seligem Ausdruck in den Himmel oder werden im Sturz aufgefangen. Im Gegensatz dazu werden, wie mir schlagartig bewusst wird, in unseren Gräben die Körper von jeher vernichtet, zerstört als Mahnung für diejenigen, die übrig bleiben. Hier wütet die abenteuerlichste Verschwendung, hier wird mit dem Leben um sich geworfen, hier werden die Körper zur Strecke gebracht, dass es ein Jammer ist. Als ich einmal die Küche beim unteren Nachbarn betrete, schiebt mich Loni mit Nachdruck hinaus. Hilfe, schreit sie, Hilfe, wir brauchen sofort einen Arzt! Auf der Küchenbank sehe ich ihren Bruder Andi liegen und stöhnen. Er ist kreidebleich. Ein Küchenmesser steckt in seinem Bauch. Andis Mutter schreit, nicht herausziehen, nicht herausziehen, sofort einen Arzt! Kaum führe ich meine kleinen Zwillingsgeschwister zum Rastocnik auf ein Eis, schon müssen Rosi und Filica auf einem Moped an mir vorbeiflitzen und in der Kurve hinter dem Stall stürzen. Blutüberströmt muss Rosi in meine Richtung rennen, um Hilfe schreiend, während ihre sterbende Schwester mit einem Genickbruch am Straßenrand liegt. Kaum verhallt in meinen Gedanken das Weinen der Familie am Unfallort, schon muss sich Stefan erhängen, Stefan unser Kostgänger, der wochenlang schmierige, blutige Flecken auf allen Sesseln und Bänken, auf denen er gesessen ist, hinterlassen hatte. Er erhängt sich neben dem Stalleingang, unter der Brücke, die auf die Tenne führt, wie um vor den Augen meiner Mutter baumeln zu wollen, die in der Früh gewöhnlich als Erste den Stall betritt. Sie habe einen Nervenzusammenbruch erlitten, sagt Großmutter, als wir erschrocken in der Küche herumstehen, nachdem wir die Nachricht erhalten
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