Engel des Vergessens - Roman
das Wäldchen hinauf zum Pecnik. Vor dem Hauseingang stehen Menschen, die sich im Flüsterton unterhalten. Ich betrete mit Großmutter die Stube, in der die Pecnica aufgebahrt ist. Auf den Holzbänken, die an der Wand stehen, sitzen Nachbarn und beten. Der Sarg ist vor einem Fenster aufgebahrt und mit Kränzen und Blumengestecken umgeben, auf denen rote und weiße Blüten leuchten. Großmutter schneidet von einem Laib Brot, der ihr gereicht wird, ein kleines Stück ab. Sie reicht mir einen Bissen und sagt, mit dem Brot habe sie ein Stück Ewigkeit abgeschnitten, am Brot werden wir uns im Jenseits erkennen, am Brot, das wir bei den Totenwachen verzehren. Ich bezweifle, ob ich von diesem Brot essen möchte, weil mich die Vorstellung, den Toten im Jenseits zu begegnen, ängstigt. Den Bissen nehme ich rasch aus dem Mund und stecke ihn in meine Jackentasche. Am Fuß der Bahre stehen auf einem kleinen Tischchen zwei weiße Kerzen, eine Muttergottes-Statute, ein gerahmtes Foto und zwei Teetassen mit Weihwasser zum Besprengen der Toten. Jetzt erst fällt mir auf, dass der Sarg mit roten Nelken umrankt ist, die aussehen, als ob sie seitlich aus dem Leichnam herauswüchsen. Großmutter sagt, ich solle das Buchsbaumzweiglein aus der Teetasse nehmen und die Tote mit dem Weihwasser besprengen. Ich kann von der Verstorbenen nur die kräftigen Hände erkennen, die über dem Bauch gefaltet sind. Am Kopfende der Bahre hebt mich Großmutter ein wenig in die Höhe, damit ich das Gesicht der Aufgebahrten sehen kann. Ich blicke auf ein fremdes, rundliches, wächsernes Antlitz, das von einem dunklen Kopftuch eingefasst ist, und führe rasch ein paar kreuzähnliche Bewegungen mit dem Buchsbaumzweiglein aus. Fertig, sage ich zu Großmutter, die unter meinem Gewicht stöhnt. Sie lässt mich auf den Boden gleiten, legt ihre Hand auf die Unterarme der Toten und bekreuzigt sie mit den Fingerspitzen. Nachdem wir uns auf eine freistehende Bank gesetzt haben, die neben der Bahre aufgestellt worden ist, bemerke ich, dass auch Michi auf der Bank sitzt und weint. Ich frage Großmutter, ob Michi mit der Toten verwandt sei, und sie verneint, aber die Pecnica sei sehr gut gewesen zu den Nachbarskindern, sagt sie.
Auf dem Nachhauseweg erzählt Großmutter, dass die Pecnica zu Weihnachten 44 Michi und seine Schwestern Zofka und Bredica aufgenommen habe, nachdem die Polizei das Kuchar-Haus umstellt und auf Tante Leni, Michis Mutter, und die Partisanen geschossen hatte, die sich im Haus aufhielten. Michi habe zum Glück seine Mutter zurückgehalten, so dass sie nicht aus dem Haus flüchten konnte. Sie wäre von der Patrouille sofort niedergemäht worden, wie Primož, der vor ihr ins Freie gestürzt war. Der siebenjährige Michi sei dann am ganzen Leib zitternd mit den Knolic-Schwestern, mit Anni und Malka, die auch Partisaninnen waren, vor das Haus getreten. Die Knolic-Schwestern wurden sofort verhaftet und nach Ravensbrück gebracht. Michi habe über den toten Primož steigen müssen und gesehen, wie die Polizei zwei weitere Partisanen, die sich ergeben hatten, mit den Gewehrkolben niederschlugen. Einer der verletzten Partisanen sei ihr Bruder gewesen, Cyril, den ich ja kennen müsste, sagt Großmutter. Die Kinder seien mit ein paar Habseligkeiten zum Pecnik gekommen. Die Pecnica habe sie gewärmt und beherbergt, bis sie sich beruhigt hatten und zwei Wochen später zu Verwandten gehen konnten, nach Lobnik.
Nach dem Begräbnis der Pecnica, zu dem Vater und Mutter nach Eisenkappel gefahren waren, belausche ich ein erregtes Gespräch in der Stube, das Vater mit Großmutter führt.
Er wisse genau, behauptet er, Beti habe es ihm erzählt, oder war es der alte Pecnik, die beiden seien damals im Januar 44, nachdem die Polizei den alten Hojnik, der mit Lungenentzündung im Bett lag, erschlagen und die Bauernleute erschossen hätte, zum Hojnik gegangen, um nachzusehen, was geschehen war. Beim Pecnik habe man nämlich Schüsse gehört und gesehen, dass etwas brenne. Die Toten seien halb verkohlt auf dem Misthaufen gelegen. Nachdem der alte Pecnik nach Eisenkappel gegangen war, um den Vorfall zu melden, sei die Polizei in der Nacht zurückgekommen und habe die Hojnik-Leute mit Benzin übergossen und verbrannt. Ach was, meint Großmutter, der alte Hojnik sei nicht krank gewesen, sein Sohn Johan sei mit Lungenentzündung im Bett gelegen, während die Polizisten das Haus plünderten. Der alte Hojnik sei außer sich gewesen, weil die Polizei nicht nur seinen kranken
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