Engel des Vergessens - Roman
spreche auch er über Mauthausen, aber er sage nie viel, er sei nie wirklich gesprächig. Meine Großmutter aber habe ihren Stolz bewahrt, meint Malka, sie sei nicht so ängstlich geworden wie sie, nicht so aufgestört.
Sveršina dagegen will, wenn er mit uns am weißlackierten Tisch sitzt, von mir nichts erfahren. Er erkundigt sich nie, wie es den Eltern oder Großmutter geht, er schweigt vor sich hin, er weiß offenbar besser Bescheid als ich.
* * *
Vater weicht uns nach dem letzten Vorfall mit dem Gewehr tagelang aus. Er arbeitet im Wald und kommt selten nach Hause. Die Stimmung auf unserem Hof ist wie nach einer ohrenbetäubenden Detonation. Eine innerliche Starre hält uns im Würgegriff und erschwert uns das Reden. Ich überlege, ob Vaters Zustand mit mir zu tun haben könnte oder mit dem Verhalten der Mutter. An mir glaube ich nichts zu entdecken, was Vater zu solchen Ausfällen bewegen könnte, deshalb beobachte ich Mutter mit gesteigerter Aufmerksamkeit. Ich beargwöhne plötzlich ihr lautes Lachen, mache ihr in Gedanken Vorwürfe, dass sie mit Vater nie so ausgelassen scherze wie mit einigen Bekannten, die uns besuchen oder denen sie nach den Messgängen begegnet.
Aber auch Vater ist anderswo freundlicher als zu Hause. Solange er nicht betrunken ist, lächelt er einnehmend. Er stützt seine Arme auf eine gelassene Art an den unterschiedlichen Rücken- und Sessellehnen ab. Er ist gesprächig, sagt »ich« und »ich habe« und »ich«.
In mir wächst die Vermutung, dass er sich unwillkürlich zu jenen hingezogen fühlt, die von den Nazis gejagt worden sind, und dass ihm jene verdächtig vorkommen, die, wie er sagt, vorgeben, etwas Besseres zu sein. Ich wundere mich nicht, ich kann mich nicht daran erinnern, mich je darüber gewundert zu haben. Auch Großmutter hört nicht auf, sich zu beschweren, dass Mutter etwas Besseres sein möchte, dass sie keine Ahnung von den Menschen und von der Welt habe, weil sie in ihrem Leben noch nie gelitten habe, weil sie keine Vorstellung vom Leid habe. Ich überlege, ob ich im schwelenden Streit zwischen Großmutter und Mutter Stellung beziehen müsste, und entscheide mich, letztlich auf Großmutters Seite zu stehen, weil sie im Leben viel durchgemacht hat und Mutter zu viel an mir auszusetzen hat.
Vater beginnt sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen. Als ihn Michi einmal fragt, ob er im gemischten Chor des Slowenischen Kulturvereins mitsingen möchte, weicht er aus. Man solle ihn mit der Kulturarbeit in Ruhe lassen, sagt er. Er wolle nie wieder eine Bühne betreten, die Zeit des Theaterspielens und des Musikantendaseins sei vorbei. Michi bedauert das und bittet ihn, wenigstens am Ausflug teilzunehmen, den der Kulturverein einmal im Jahr organisiert, da gehe es immer lustig zu. Ja, sagt Vater, da würde er mitfahren. Er weigert sich auch, an Elternsprechtagen in die Schule zu gehen, da sollen diejenigen hin, meint er, die sich für wichtig halten. Er nehme sich nicht wichtig, er habe noch nie dazugehört.
Ich hole ihn dann und wann bei Nachbarn ab, bei denen er nach der Waldarbeit, wie er sagt, hängengeblieben sei. Er sitzt gerne am Peršman-Hof, in der Küche bei Anci, die damals, als die SS die ganze Familie erschoss, überlebt hat. Sie sei sieben Jahre alt gewesen, sagt Vater, und habe sechs Schüsse abbekommen. Am Kinn und an der Hand könne man die Einschüsse noch sehen. Sie habe sich tot stellen können, doch die kleinen Kinder hätten laut geweint und seien erschossen worden.
Wenn ich eintrete, sitzt Vater gewöhnlich mit einer Bierflasche in der Hand am Ende des Küchentisches. Anci thront neben dem Herd, auf dem sie das Essen für ihre Kinder warm hält. Ich beginne auch, gleich nachdem ich die Küche betrete, ihr Gesicht und ihre Arme nach den Schüssen abzusuchen. Sie habe sich hinter dem Sparherd verstecken können, sagt Anci, aber der kleine Bruder, den sie im Arm hielt, sei erschossen worden.
An der Hausfront ist eine Marmorplatte angebracht, auf der die Namen der Kinder, der Eltern und Großeltern in vergoldeter Schrift eingraviert sind. Vater sagt, dass er in so einem Haus nicht leben könnte, in dem er täglich mehrere Male, immer dann, wenn er das Haus verlasse oder betrete, an die Toten erinnert werde.
* * *
Großmutter erzählt eines Tages, als ich aus der Schule komme, dass die alte Pecnica gestorben sei, und will, dass ich mit ihr zur Totenwache gehe.
Als es dunkel wird, gehen wir über die Wiese hinter unserem Haus und durch
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