Engel des Vergessens - Roman
haben. Sie müsse sich erst einmal beruhigen, wir Kinder sollten, bis der Leichnam geholt wird, im Haus bleiben. Aber wir Kinder zerren den Erhängten, ohne auf den Leichenwagen zu warten, mit lauernden Augen ins Haus, wir ziehen ihn unter der Holzbrücke hervor, die ihn verdeckt hält, stellen uns vor, wie er aussehen mag, glauben schon auf der Brücke zu knien und zwischen den Planken hinunterzuspähen, die baumelnden Beine zu erkennen, die hängenden, leblosen Beine in der blauen Arbeitshose. Bis der Arzt kommt, haben wir im Geiste mehrmals von der Brücke geschaut. Wie man vom Ufer ins tosende Wasser blickt, schauten wir aus dem Leben auf den eifrigen Tod. Er hat sich ein Arbeitskleid übergeworfen. Er wollte womöglich unerkannt bleiben unter der Scheune, den Leichnam vor sich her schieben, ohne gesehen zu werden. Aber wir haben ihn erkannt und einen Hauch seiner Gegenwart gespürt.
Mutter weint tagelang, sie werde nie wieder sorglos den Stall betreten können, klagt sie, Stefan habe sich unter der Scheune aufgehängt, um sie zu strafen, er hätte sich auch anderswo aufhängen können, damit nicht sie ihn gefunden hätte. Großmutter sagt, es geschehe ihr recht.
Dem Tod wird es auf unserem Hof bald zu eng und zu laut. Er findet Unterschlupf auf dem Auprich-Hof, wo er in Deckung geht und eine Zeitlang übersehen wird, bis ihn der Bauer, ein Freund meines Vaters, aufstört und sich Monate später erschießt. Am Morgen, als uns erzählt wird, dass Franz sich mit einem Gewehr in den Kopf geschossen habe, aber schlecht gezielt und sich deshalb die Augen aus dem Kopf gesprengt habe, spüre ich, dass es eng wird, dass der Tod den Angriff auf meinen Vater nicht abgeblasen hat, dass er nur einen Umweg genommen hat, um ihm näher zu kommen, um aus dem Hinterhalt zuschlagen zu können. Vater sagt, jetzt hat er es wirklich getan, jetzt hat er es doch getan. Ich denke seinen Gedanken zu Ende, der mich augenblicklich in Aufruhr versetzt. Jetzt wird es ernst, glaube ich zu begreifen, jetzt muss ich meinen Auftrag erfüllen, jetzt bin ich an der Reihe, Vater zu retten.
Nach dem Begräbnis von Franz beobachte ich Vater mit Spannung. Während der Woche weiß ich ihn von der Arbeit beschützt, aber an Wochenenden ist seine Unruhe spürbar. Es ist, als betrachte er ununterbrochen sein Leben, als ob er fassungslos darüber wäre, was er empfinden müsse. An Sonntagen rasiert er sich mit nacktem Oberkörper in der Küche und wäscht sich mit dem Wasser, in dem Bartstoppel und Rasierschaum schwimmen, die Achseln. Er kämmt sich mit einem alten Kamm, den er in das Rasierwasser taucht. Er riecht nach Seife und manchmal, wenn er meinen Blick spürt, blitzt ein Lächeln in seinen Augen auf wie eine kleine Stichelei, wie eine Anspielung auf bessere Zeiten, die es auch einmal gegeben hat, an die man jetzt aber nicht denken sollte.
Ob ich wissen möchte, fragt er einmal, was er sich beim Begräbnis von Franz gedacht habe? Ich nicke. Er habe sich gedacht, dass die Menschen erst beim Begräbnis begreifen, wen sie gerade verloren haben. Dann erst erkennen sie, was der Mensch, den sie zu Grabe tragen, ihnen bedeutet, welchen Wert er als Mensch gehabt habe. Beim Abschiednehmen werden sie von Gefühlen gepackt, sie weinen und trauern, aber da sei es endgültig zu spät, denn der Tote habe nichts mehr davon, er habe nichts mehr davon, wenn er in Ehren begraben werde, ob ich das verstehen könne? Ich nicke abermals. Ein Mensch werde das erste Mal geehrt, alle werfen dem Sarg Blumen hinterher, es werden Reden gehalten, in denen sich die Gemeinschaft für seine Arbeit bedankt, für die Opfer, die der Tote im Leben gebracht hat, aber das ergebe keinen Sinn mehr. Bei seinem Begräbnis werde er dafür sorgen, sagt Vater, dass einigen Menschen das Weinen und Klagen vergehen werde, er werde sie staunen machen, sie werden das erste Mal begreifen, dass sie ihm Unrecht getan haben, und sich von da an den Rest des Lebens vorwerfen, ihn behandelt zu haben wie einen räudigen Hund. Er werde aus dem Sarg heraus ihre Tränen zurückweisen und sich unnachgiebig zeigen, wenn sie auch noch so um Vergebung winselten, das habe er sich geschworen, sagt Vater.
Ich stelle mir vor, wie eine Menschenprozession Vaters Sarg folgt und sich die Trauernden reumütig mit der Hand auf die Brust schlagen, wie sie sich gleich darauf um ein offenes Grab versammeln und ihre Köpfe hängen lassen. Ich gebe Vater recht und muss mich sehr anstrengen, nicht in Tränen auszubrechen,
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