Engel des Vergessens - Roman
da ich mir einbilde, aus seinen Sätzen auch Spott und Häme herausgehört zu haben.
Meine Unruhe steigert sich, wenn er am Sonntagnachmittag ins Gasthaus geht. Sobald es dunkel wird und ich ihn nach seiner Rückkehr hinter dem Stall schimpfen höre, setze ich mich in der Wohnstube ans Fenster, von dem aus ich das Stallgebäude, vor allem aber den Aufgang zur Tenne im Blick habe. Mutter bittet mich zu beobachten, wie lange sich Vater auf der Tenne aufhält. Falls er nach einer halben Stunde nicht zurückkommen sollte, müsse man nachsehen. Die Tenne ist wegen ihrer Balken und Sparren ein anstiftender Ort, sagt Mutter.
Ich glaube Vater einmal gehört zu haben, als er Mutter androhte, sich auf der Tenne zu erhängen, weil sie ihm die Patronen für das Gewehr versteckt habe. Als Jäger hätte er ein Recht auf seine Patronen, es sei eine Ungehörigkeit, was sie sich herausgenommen habe, keine Frau in Lepena würde es wagen, ihrem Mann die Patronen wegzunehmen.
Kaum torkelt Vater die Holzbrücke zur Tenne hinauf, wird mein Körper von rasenden Gedanken erhitzt, er beginnt zu fiebern, aufzuweichen wie Bienenwachs, wenn es mit dem Feuer in Berührung kommt. Vater kehrt meistens zurück. Ein paar Mal warten wir jedoch vergeblich. Mit verhaltenem Atem hasten wir auf die Tenne und finden ihn schlafend im Heu.
An einem Montagmorgen überprüfe ich vor dem Schulgang die Schultasche. Vater tritt in die Stube und setzt sich auf die Ofenbank. In seiner Hand hält er einen Kälberstrick und seufzt. Ich lasse diesmal meinen Tränen freien Lauf und setzte mich zu ihm. Er sieht mich erstaunt an, als ob er in diesem Augenblick erst begriffe, was ich begriffen zu haben meinte. Aber Mädchen, sagt er, du musst doch nicht weinen! Ich habe nur daran gedacht, es zu tun, aber als ich es tun wollte, als ich die Schlinge um meinen Hals gelegt hatte, spürte ich, dass mich etwas zurückhält, eine Art Engel, weißt du. Ich glaube jemanden gesehen zu haben. Ich kann es nicht tun, das musst du wissen! Ich bringe es nicht über mich, sagt Vater.
Mutter steht plötzlich vor uns und schreit Vater an, ob er denn wisse, was er dem Kind antue, ob er überhaupt wisse, dass ich zu fiebern beginne, wenn er seine Dummheiten treibe, er solle endlich aufhören, die Kinder in Angst und Schrecken zu versetzen, schreit sie, er solle sich endlich besinnen! Sie liebt mich eben, sagt Vater zu ihr, was man von dir nicht behaupten kann. Im Übrigen habe er vor, eine Zeitlang zu seinem Bruder zu ziehen.
In diesem Augenblick bricht die angestaute Verzweiflung aus mir. Ich schreie und bitte ihn, nicht zu gehen, er solle bei uns bleiben. Ich kralle mich an ihm fest, ich werde ihn festhalten, denke ich, er müsse endlich begreifen, dass er sich nicht aus unserem Leben stehlen kann.
Sie verliert gleich das Bewusstsein, höre ich Mutter sagen, so habe ich sie noch nie gesehen, das Kind ist wie von Sinnen, sagt sie, man müsse mich ins Bett bringen, in diesem Zustand könne ich nicht in die Schule gehen, jetzt könne Vater sehen, was er angerichtet hat, er habe das Kind um den Verstand gebracht.
Ich werde ins Bett getragen und werfe mich in den Laken hin und her. Mutter hält meine Hand, sie sitzt neben mir, wie sie nie zuvor an meinem Bett gesessen ist. Sie bringt mir warme Milch und Apfelkompott, sie würde auch Johannisbeeren aus dem Vorratskeller holen, wenn ich es wolle. Ich solle mich beruhigen, sagt sie, ich solle beten, wenn ich richtig betete, werde Gott alles einrenken, glaubt sie, glaube ich nicht.
Vater kann in den nächsten Wochen kaum schlafen. In langen Nächten wiegt er seinen Oberkörper mit dem schmerzenden Kopf hin und her. Er stöhnt und jammert, sein Kopfweh sei das Fegefeuer, er könne sich bei Gott nicht vorstellen, womit er diese Schmerzen verdient habe, warum er mit solchem Kopfweh bestraft werde.
Eines Abends lässt ihn Großmutter vor dem Hauseingang erkaltete Glutstücke aus der Gusseisenpfanne über seinen Kopf nach hinten werfen. Für jeden Schmerz eine Glut.
Wirf den Schmerz hinter dich, ohne zurückzuschauen, halte die Luft an, sprich ein Gebet! Man muss daran glauben, sagt Großmutter. Man muss die Heiligen anrufen, denn Hören bedeutet Gehorchen. Michael, Raphael, Gabriel, Souriel, Zaziel, Badakiel! Fliehe Krankheit, da ein Gott dich verjagt! Fliehe Krankheit, da ein Gott dich verjagt!
* * *
Ich bin so erschöpft, dass ich beginne, mich aus meinem Empfindungskörper zurückzuziehen. Ich wundere mich, warum niemand daran denkt,
Weitere Kostenlose Bücher