Engel des Vergessens - Roman
auch für mich einen Behütungszauber zu sprechen, der mich beschirmt vor zu viel Gefahr. Warum alle vergessen, Schutzworte über mich zu breiten, damit ich vor dieser Wirklichkeit bewahrt bliebe, die mich bei jedem neuen Ereignis erschaudern lässt. Ich könnte jede Hand ergreifen, mich an jeden Baum und an jedes Tier schmiegen, an dem ich vorübergehe. Ich rede mit den Kälbern und schlage auf die gleichmütigen Kühe ein, wenn ich sie von der Weide in den Stall treibe.
Großmutter gibt mir wiederholt Zeichen, ich solle zu ihr kommen, sie müsse mir etwas verraten. Sie fragt mich, ob ich bei ihr im Auszugshäuschen übernachten möchte, ob ich mich freuen würde, mit ihr das Bett zu teilen. Ich würde, ich will! Aber nur, wenn deine Mutter nichts dagegen hat, bemerkt Großmutter mit einem leisen, triumphierenden Zittern in der Stimme, du musst sie selbstverständlich fragen.
Manchmal frage ich Mutter, ohne vorher mit Großmutter geredet zu haben. Ich lade mich einfach zu Großmutter ein. Ich will nicht allein sein.
Großmutters Schlafzimmer ist ein Gedächtnisort, eine Königinzelle, in der alles in eine milchige Flüssigkeit eingetaucht scheint, eine Brutzelle, in der ich mit Großmutters Nährflüssigkeit gefüttert werde. In dieser Keimzelle werde ich, wie ich erst Jahre später begreifen werde, geformt. Großmutter richtet meinen Orientierungssinn ein. Von da an gibt es kein Vorbeikommen an ihren Markierungen. Meine Sinne werden Großmutters Vibrationen auf die Welt übertragen und die Möglichkeit der Zerstörung in allem sehen. Sie werden auf Glücksfügungen warten, auf die wenigen Momente, in denen Veränderung möglich ist, denn die Rettung muss erhofft und vorbereitet werden, aber ohne glückliche Fügung zerfällt sie zu nichts.
Ab dem Moment, da Großmutter beschließt, mich an jenen zwei Jahren ihres Lebens, die sie am tiefsten gezeichnet haben, teilhaben zu lassen, liegen die Büchlein Die Frauen von Ravensbrück und Was geht das mich an , die sie von der Gedenkfeier in Ravensbrück mitgebracht hatte, auf dem Nachttischchen neben der Arnikatinktur und dem bitteren Beifußlikör. Bisweilen reicht mir Großmutter ein Büchlein mit der Aufforderung, ich solle ihr aus dem Buch vorlesen. Ich setze mich an den alten Küchentisch und lese: In Ravensbrück gab es: Den Lagerkommandanten, den Schutzhaftlagerführer, den Verwaltungsführer, den Arbeitsdienstführer, die Gestapobeamten der Politischen Abteilung, die Lagerärzte, die SS-Schwestern, die Oberaufseherin, die Aufseherinnen, die SS-Wachmannschaften.
Gib her, sagt Großmutter und zieht das Buch ungeduldig an sich, ich zeige dir die Aufseherinnen. Sie blättert im Buch und zeigt mit dem Finger auf eine Gruppe von Frauen, die auf einer Anklagebank sitzen. Sie weist auf eine junge, blonde Frau, sie sei die Schlimmste gewesen, sagt sie. Sie habe einen Hund gehabt, den sie auf die Häftlinge gehetzt habe, wenn sie während des Appells zusammengebrochen seien. Sie könne diesen Bluthund immer noch sehen, wie er an der Leine reißt, bevor er zum Sprung auf eine erschöpfte Frau ansetzt. Eine Polin aus ihrem Block sei von diesem Hund gebissen worden. Sie habe richtige Löcher in den Beinen gehabt. Eine polnische Ärztin habe die Wunden mit Urin spülen lassen. Sie habe den Frauen geraten, ihre Wunden mit Urin zu spülen, das habe geholfen, etwas anderes sei ja nicht vorhanden gewesen, kein Verband, gar nichts.
Das war diese Aufseherin, sagt Großmutter und legt ihren Zeigefinger auf das Gesicht der Frau, welches darunter verschwindet. Sie sei sehr jung gewesen und sehr böse, sehr verdorben. Gott, was gibt es nicht alles für Menschen, ruft Großmutter aus und spuckt auf das Foto. Dann wischt sie die Buchseiten mit dem Ärmel ab, damit sie nicht verkleben.
Manchmal spuckt sie das Foto der SS-Lagerärztin an, stellvertretend für die SS-Ärzte, denen sie begegnet ist, als sie ins Revier gebracht wurde. Was diese Ärztin den Frauen angetan habe, cudno, cudno , sagt Großmutter und meint wieder furchtbar, wenn sie sonderbar sagt.
Sie glaubt, dass wegen dieser beiden Bücher niemand mehr behaupten könne, dass sie ihre Geschichten erfinde. Niemand kann mich mehr Lügnerin schimpfen, sagt sie.
Zuweilen zieht sie ein rotes, fleckiges Heftchen aus der Tischlade. Mein Lagerbuch, sagt sie und öffnet das Heftchen, schau, auf die innere Umschlagseite habe ich knjiga od zapora Maria H ., das Gefängnisbuch von Maria H., geschrieben. Das Heftchen habe ihr auf dem
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