Engel des Vergessens - Roman
den Tee. Ich schäme mich für ihn und weiß nicht, ob ich es Mutter sagen soll, weil sie mir vermutlich nicht glauben würde. Großmutter kann Stefan nicht leiden, aber Vater ist ihm dankbar, wenn er bei der Waldarbeit hilft oder bei der Heuernte mit anpackt.
Ich kann nicht ergründen, was ich wirklich lebe. Meine Gefühle sind nicht mit den Wörtern vertraut, die ich spreche. Konnte ich früher mit den Wörtern nach Gegenständen, Gefühlen und Gräsern werfen und sie treffen, prallen die Wörter jetzt von den Gegenständen und von den Gefühlen ab. Früher nahmen die Empfindungen, so kam es mir vor, die Wörter an, jetzt aber bleibe ich mit allem zurück, wofür es keine Sprache gibt, und wenn es sie gibt, kann ich sie nicht in Dienst nehmen.
Das Gehen ist eine Bewegung, die mich erklärt. Ich gehe zur Schule, ich gehe wieder nach Hause. Ich gehe über das Feld und komme zurück, ich blicke zu den Baumkronen und strecke mich nach den Früchten, ich gehe zum Gebirgsbach, dessen Sprudeln das Tal bis oben hin ausfüllt mit unsichtbaren Bläschen wie eine Wanne voll Lautschaum. Meine Gedanken sind krause Hirngespinste, Mutmaßungen über den Tod, der seine alte Haut abstreift und noch nicht weiß, wann er sich zeigen wird, wann er alles ins wirkliche Licht rücken wird. Anmaßungen.
Den Kindern in den Schulbüchern stößt immer anderes zu. Ich komme darin nicht vor. Ich denke daran, mich aus der Kindheit zurückzuziehen, weil ihr Dach undicht geworden ist, weil ich Gefahr laufe, mit ihr unterzugehen. Ich denke auch, dass schon viel mehr geschehen ist, als einer Kindheit zuträglich wäre, und ich schon längst in etwas hinüberwechseln müsste, wofür ich keinen Begriff habe.
Und dann stehen noch diese Wörter herum mit schönen Krinolinen, wie Balletttänzerinnen auf Zehenspitzen balancierend, und die Gerüchte vom Besuch einer anderen Schule. Diese Überlegungen sickern in mich ein wie ein helles Glockenspiel und ich stelle mir vor, wie mich ein Schulwechsel gegen die Umgebung abschließen könnte.
Heimliche Gedanken werden eitler. Im Kopf beginnen blank geputzte, zaghafte Wünsche zu kreisen. Sie duften nach Maiglöckchen und wirken, als seien sie gerade dem Schönheitsbad entstiegen. Sie tragen Prinzessinnenkleidung und mit Fell gefütterte Stöckelschuhe.
Nach der Schule gehe ich gerne zu Tante Malka, die mit Sveršina in der Auprich-Keusche lebt. Sie war eines der Mädchen von unserem Hof, Großvaters jüngste und hübscheste Schwester, die den verwitweten Auprich-Bauern geheiratet hatte und nun, nachdem der Bauer im Krieg gefallen ist, mit Sveršina das Leben im Ausgedinge teilt.
Tante Malka ist die Einzige, die alles, was ich sage, hinreißend findet. Sie lächelt nicht nur, sie strahlt mich an, wenn ich zu ihr komme, sie klatscht in die Hände und streicht mir über die Wangen. Sie drückt mich an sich, Jessas, ruft sie, Jessas, mein Mädchen, mein liebes Mädchen, was möchtest du, dass ich dir gebe. Sie bäckt Palatschinken und bestreicht sie mit einer dicken Schicht Marmelade. Sie steckt mir Bonbons zu, die in meiner Schultasche leuchten wie kleine Glückseligkeitskugeln, die ich nur für mich behalte und mit niemandem teile. Sie setzt sich zu mir, während ich esse, und will erfahren, was es Neues gibt zu Hause. Ach, sage ich, gar nichts, Großmutter gehe es gut. Und Vater, fragt sie, auch, sage ich, ebenso, gut. Sie hätten so viel erleiden müssen, bemerkt sie, es reiche für mehrere Leben, ob mir Großmutter von früher erzähle. Manchmal ja, sage ich, ich kenne ein paar Geschichten. Ich müsse sie fragen, spornt mich Malka an, sie habe ihren Kindern auch vieles erzählt, als sie begannen, neugierig zu werden, wie sie als Partisanin verhaftet und nach Ravensbrück gebracht worden sei, wie der Krieg ihr Bäuerinnenleben aus den Angeln gerissen habe. Freilich, man dürfe die Kinder nicht zu sehr verschrecken, womöglich werden sie seltsam wie die Alten, befürchtet sie, verrückt wie sie selbst. Sie habe zum Beispiel Angst vor Flugzeugen, sie müsse, immer wenn sie ein Flugzeug am Himmel sehe, ins Haus laufen und sich verstecken. Sie sei so kindisch geworden mit den Jahren, sagt sie, schrecklich kindisch, als ob sie sich in ein Mädchen verwandelt hätte und nicht in eine alte Frau. Das könne man nicht erklären, auch nicht die abscheulichen Träume, die man habe. Sie träume manchmal, sie sei wieder in Ravensbrück, und Sveršina müsse sie ständig beruhigen. Wenn er nicht schlafen könne,
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