Engel des Vergessens - Roman
Kämpfer, der viele Eiter, das wohlriechende Wildfleisch, der Pilz- und Modergeruch, die Waldfrische, die Waldgüte, der Wald kann noch gütig sein. Er kann noch immer seine Äste über Mensch und Tier breiten und entkräftete Geschöpfe auf ihnen schlafen lassen, er kann die Äste auf die Gräber der Erschossenen und zur Strecke Gebrachten legen und seine Zweige als letzte Bissen verschenken. Er kann Ruhe bewahren, während auf seinem Boden Rehe und Hirsche ausgeweidet werden. Der Wald kann nicht klagen und weinen, die Bäume enthüllen erst ihr Gedächtnis, wenn sie gefällt werden. Es verbirgt sich in ihren Jahresringen, in ihren Verwachsungen und Geschwüren. Der Wald wächst nur langsam und mit dem langen Atem der Bäume aus der Vergangenheit in die Gegenwart, aber er wächst.
Viele Überlebende werden ihre Anwesen und Höfe verlassen. Sie werden ihre Güter nicht mehr bewirtschaften wollen, weil sie vom Krieg gezeichnet sind. Sie werden die Erinnerungen an den Krieg mit ihrem Schweigen aushungern. Sie werden Angst haben, als Verwundete und Geschlagene erkannt zu werden, denn das könnte ihre Schande noch vergrößern. Sie werden sich fürchten, Jahre später dem ehemaligen SA-Sturmbannführer, rechtsextremen Politiker, Psychiater und amtlichen Gutachter des Landes ihre Verfolgung unter den Nazis zu schildern. Sie werden sich nicht der verspäteten Opferbeschau durch ihre ehemaligen Gegner ausliefern wollen. Mit dem Vergehen der Zeit wird sich der Sinn von allem verlieren. Das Erlebte wird wie Abfall herumliegen, wird auf den Zusammenhang warten. Es wird zerstört werden.
Die anderen, die nicht vergessen können und einen Sinn in ihrem Erleben suchen werden, werden ihre Niederlagen erleben. Sie werden sich im eigenen Land nicht dabei ausruhen können, das Richtige getan zu haben, sie werden hinterfragt werden, sie werden sich selbst hinterfragen, es wird ihnen nicht geholfen werden. Sie werden sich fragen, warum das Slowenische immer ein Hinhauen nachzieht. Ein Volk zusammengeschweißt und zerrissen durch Schmerz. Wenige werden darüber nachdenken, ob sie freiwillig oder aus Versehen jemanden verraten haben, aus Dummheit oder Unachtsamkeit, aus verletztem Stolz, aus Rache, viele werden darüber grübeln, wer sie angezeigt haben könnte, wer sie denunziert hat, wer ihre Familien in den Abgrund gerissen hat, und alle werden spüren, dass das Leid durch Vermutungen und Verdächtigungen nicht zu überwinden ist, dass es besser ist, die Schatten des Krieges zu verdrängen, sie mit Verheiratungen und Verwandtschaft zu überrumpeln, denn das Leben muss weitergehen, irgendwie muss es weitergehen.
Sie werden sich einen Ruck geben, sie werden Hochzeiten feiern und sich in neuen Familien näherkommen, sie werden ihr Misstrauen nicht überwinden können, sie werden sich noch einmal hinreißen lassen, nach dem Krieg für mehr Gerechtigkeit, für mehr Brot und für Josip Broz-Tito zu demonstrieren, sie werden in Eisenkappel mit den Deutschsprachigen aneinandergeraten, die Fäuste werden fliegen, die Stöcke werden gezückt werden, Männer und Frauen werden aufeinander einschlagen, die Grabenmenschen werden ihre Abfuhr hinnehmen, sie werden wieder in ihre Häuser und Keuschen zurückgehen, sie werden niemandem trauen. Nie wieder soll ihnen die Politik zu nahe treten, nie wieder sie gefährden, sie umbringen dürfen. Sie werden darauf warten, dass sie das Heimatland, das sie in größter Not im Stich gelassen hat, nunmehr willkommen heißt, dass es ihre Toten und Umgebrachten beklagt, dass es ihre Namen in Erfahrung bringt, dass es ihre Trauer um sie teilt, dass es ihren Widerstand würdigt. Sie werden jahrzehntelang warten. Sie werden feststellen, wie bedächtig die Rechtsmühlen in diesem Land mahlen werden, wie behäbig sich die Verwaltungskörper bewegen, wie nachlässig und widerwillig die Nazispuren entsorgt werden, nur keine Hast, nur nicht auffallen, damit alles in alter Schönheit erstrahle, damit nichts gewesen war, nichts an die Nazis erinnert.
Sie werden feststellen, dass die Zerstörung, obwohl gerade bezwungen und gebändigt, seltsame Blüten treibt, dass sie sich neu entwirft, dass sie unbemerkt knospt, dass sie nicht ablassen kann, den Tod zu phantasieren. Die Unscheinbarsten werden seiner Verlockung nachgeben und sich erschießen, erhängen, sich mit Benzin übergießen und anzünden. Ihre Familien werden rätseln, wer diese Verzweiflung in ihre Angehörigen gesät hat, wer diese Finsternis in ihnen
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