Engel des Vergessens - Roman
Flucht.
Der Hojnik Johann geflohen bei seiner Verhaftung, Großvater, Vater und Mutter von der Polizei erschlagen, erschossen, mit eigenen Augen gesehen das Blutbad, die Leichen auf den Misthaufen geworfen, verbrannt, die Paula nach der Verhaftung geflohen, nachdem ihr Vater im Gestapogefangenenhaus in Klagenfurt zu Tode gefoltert wurde, gestorben am Harnblasenriss, an Nierenversagen; geflohen, nachdem ihre Mutter in Aichach ein Kind zur Welt brachte, ein Mädchen, ein zartes Ding, geflohen, nachdem die Polizei 30 Schafe, 12 Rinder und 2 Pferde mitnahm, auf dem Weg ins Gefängnis geflohen wie später die Brüder Josef und Jakob, die Rettung in letzter Minute wie Ivanka, Malka, Marija und alle anderen. So wird man Partisanin. Die Kinder, die in den verwaisten Häusern auf die Rückkehr der Eltern warten, die Läuse aus den Haaren pflücken, ihre Besuche im Gefangenenhaus, ihre Bitten, ihr Flehen, ihr Weinen. Kinder, die ihre Mütter nicht mehr erkennen, nachdem sie aus den Lagern heimkehren, die gealterten, fremden Frauen, die eigentümlichen, schweigenden Väter. Die Hirtl Bernarda, geboren in Ravensbrück, hat überlebt. Tinca habe geholfen, die Mutter nach Hause gebracht mit ihrem fünf Monate alten Kind. Die liegengelassenen Peršman-Leichen, die nach Tagen hinter dem Stall beim Rastocnik abgestellt werden, die Fliegenschwärme auf ihren stinkenden Särgen. Niemand erklärt sich bereit, das Grab für die Familie zu schaufeln, nur der Pfarrer Zechner gräbt unermüdlich mit Marta die ganze Nacht, bis sich auch andere trauen und hoffen, dass der Alptraum endlich ein Ende habe, für immer zu Ende gehe dieses Leid. Die Partisanen im letzten Kriegswinter gehetzt, der Sieg ist in greifbare Nähe gerückt, da gibt es kein Wenn und kein Aber, sie wollen getragen werden, der Sattel muss geholt werden, der Stier muss geschlachtet werden, das Brot muss gebacken werden, die Milch muss gemolken werden, die Krapfen müssen gefüllt sein, die Wäsche bereitliegen, die Tanzveranstaltung stattfinden, die Siegesgewissheit, die Todesgewissheit, der alles beherrschende, jeden beargwöhnende Verdacht, das Verhören von angeblichen Denunzianten, das geheime Erschießungskommando, die Schaufeln und Spaten, der schießwütige Kommandant.
Das elende Leben der Kämpfer, der ständige Hunger, das scheußliche rohe Fleisch, das nicht gekocht werden kann, weil das Feuer sie alle verrät, keine Milch, kein Gemüse, die nässenden Wunden, die Kälte, der Dreck. Er könne es nur ertragen, sagt Tine, mit der Gewissheit gegen die Vernichtungsbringer, gegen die Nazis gekämpft zu haben, etwas unternommen zu haben gegen ihren totalen Krieg. Drei Jahre lang Partisan, drei Jahre gegen die Nazis gekämpft, da könne ihm niemand etwas erzählen, das stärke ihn in den Stunden des Zweifels, nichts sonst, sonst nichts.
* * *
Wie kehren die Überlebenden nach dem Ende des Krieges zurück? Illegal, flüchtend aus allen Ecken und Enden des Kontinents? Vereinzelt oder in Gruppen, kommen sie aus den Wäldern und Lagern, irren nach Hause? Vorsichtig nähern sie sich ihren geplünderten, zerstörten und abgebrannten Huben. Immer noch auf der Flucht, immer noch mit dem Gefühl, etwas Unrechtmäßiges zu tun? Sind sie Sieger oder Geschlagene? Werden sie sich an die Namen der Toten erinnern oder sie vergessen wollen? Werden sie eine Sprache finden für ihren Schmerz, der ein Sieg sein sollte und doch nur Verwüstung ist?
Sie spüren, dass an die Stelle ihres Erlebten andere hintreten werden, die eine zusammenhängende Geschichte erzählen können, wo es für sie nur Versprengtes und Verstreutes gibt. Sie spüren, dass es unter ihnen, unter den Überlebenden und Siegern noch Verlierer und Unterlegene geben wird. Sie spüren, dass sie ihre Hoffnung klein halten müssen, dass sie gerade dazu reichen wird, ihr Leben über die Runden zu bringen, zu mehr nicht.
Die Briten werden ihre Häuser nach Waffen und Propagandamaterial durchsuchen, denn ehemalige Partisanen in ihren Familien könnten mit der Anschlussforderung an Jugoslawien die neu zu sichernden Grenzen bedrohen.
Die gerade noch Verbündeten werden zu Gegnern. Die slowenischen Kommunisten werden unter den Kämpfern die Spreu vom Weizen trennen, der gehört zu uns, werden sie sagen, der andere nicht, der war ein begeisterter Kämpfer, der andere nicht, der ist politisch, ist revolutionär, der andere nicht, der zögert, misstraut uns, der andere nicht. Die österreichischen Kommunisten werden die
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