Engel sterben
23. Juli, 9.30 Uhr,
Zöllner-Immobilien
, Kampen
Um halb zehn am Morgen ist der Strönwai noch menschenleer. Mona Hofacker findet problemlos einen Parkplatz vor den Geschäftsräumen von
Zöllner-Immobilien
. Das Maklerbüro ist in einem niedrigen Eckhaus in Kampens feinster Einkaufslage untergebracht, genau zwischen dem Fußweg zum Nordseestrand und dem Beginn der Restaurant- und Shoppingmeile. Nebenan befindet sich der Store eines Nobeldesigners und gegenüber eine Hummerbar. So unterschiedlich die Auslagen der einzelnen Schaufenster auch sein mögen, auf den ersten Blick wirken hier alle Gebäude wie aus einem friesischen Freilichtmuseum importiert. Einstöckig, niedrig, behäbig. Und natürlich mit Reet gedeckt. Die breiten Dachüberstände werfen wohltuende Schatten auf die bodentiefen Fenster von Geschäften und Büros. Um in die Innenräume zu sehen, muss man schon nah an die Fenster herantreten. Oder die Tür aufdrücken, so wie Mona es jetzt tut.
Obwohl das Maklerbüro erst um zehn Uhr öffnet, sitzen Monas Mitarbeiter bereits an ihren Glasschreibtischen. Wie an jedem Morgen ist der kahlrasierte Schädel Oskar Neumanns tief über die Morgenzeitung gebeugt. Konzentriert liest er den Leitartikel der
FAZ
, während seine Kollegin Lucie Piehl eher unengagiert in der
Sylter Rundschau
blättert. Sie scheint nicht zu finden, was sie sucht, und blickt ihrer Chefin mit einer für sie ungewöhnlichen Ernsthaftigkeit entgegen, als könne diese eine aus dem Lot geratene Welt wieder geraderücken.
»Haben Sie schon die Nachrichten gehört, Frau Hofacker?«
»Beim Frühstück. Warum fragen Sie?«
»In List ist ein Kind verschwunden.«
»Ach das. Ja, das ist schrecklich. Kennen Sie die Leute?«
Unkonzentriert wirft Mona ihre Handtasche auf den Stuhl neben dem Schreibtisch und schiebt ein paar Exposés zur Seite.
»Natürlich nicht, das sind doch Sommergäste.«
»Entschuldigung, da habe ich wahrscheinlich nicht richtig hingehört. Ein Mädchen war das, oder? Sechs oder sieben Jahre alt.«
»Genau. Die Familie war auf dem Rückweg vom Strand. Hoffentlich ist das Mädchen nicht heimlich zum Meer zurückgelaufen und ertrunken.«
»Bei dem Wetter? Vor zwei Tagen hatten wir wenigstens noch Ostwind. Mittlerweile ist auch der zum Erliegen gekommen. Und die See ist seit einer Woche spiegelglatt, wie soll da ein Kind ertrinken?«
»Ja, aber was soll denn sonst mit der Kleinen sein? Dass sie den Eltern weggelaufen ist, schließt die Polizei aus.«
»Vielleicht haben die Eltern mehr Geld, als sie zugeben wollen, und es läuft auf eine Lösegeldforderung hinaus«, wirft Oskar Neumann vom anderen Ende des Raumes ein, ohne von seiner Zeitungslektüre aufzublicken. Neumann ist politisch außerordentlich interessiert und immer auf dem neuesten Stand des Tagesgeschehens. Sein Habitus spricht vor allem intellektuelle Kunden an, und Mona bemüht sich darum, ihn auch an diesen Personenkreis als Betreuer zu vermitteln. Dass er diese menschliche Tragödie so cool zu nehmen scheint, gefällt Lucie Piehl gar nicht.
»Na hör mal! Gibt es denn überhaupt so eine Forderung?«
»Nicht dass ich wüsste.«
Neumann blättert die Zeitungsseite um und vertieft sich in einen Hintergrundbericht. Auch Lucie wirft einen kurzen Blick in ihre Zeitung.
»In der Rundschau steht noch gar nichts. Aber die Polizei ist ja in solchen Fällen sehr zurückhaltend mit Details. Wahrscheinlich wissen die schon viel mehr, als wir in den Nachrichten erfahren.«
Auffordernd blickt Lucie von ihrem Kollegen zur Chefin und wieder zurück. Zu gern würde sie den Entführungsfall ausführlicher erörtern. Doch Mona winkt ihre Mitarbeiter energisch hinüber in den Nebenraum, wo um einen Besprechungstisch aus massiver Eiche Lederfreischwinger gruppiert sind. Hier finden nicht nur die internen Konferenzen, sondern auch die wichtigen Kundengespräche statt.
»Können wir das jetzt mal beiseitelassen und kurz über ein neues Objekt reden?«
Als Oskar und Lucie Platz genommen haben, beginnt Mona ihren Bericht über das Watthaus, das sie vor zwei Tagen begutachtet hat. Sie erwähnt Markus Rothers eigentümliches Verhalten mit keinem Wort, schließlich ist sie zu Recht für ihre Diskretion bekannt. Stattdessen beschränkt sich Mona auf die Schilderung der baulichen Details, schwärmt besonders von dem Ausblick, den der Runderker bietet, hebt insgesamt die außerordentliche Lage der Immobilie hervor und schließt ihr Referat mit den Worten:
»Den Schlüssel bekomme
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