Engel sterben
verloren.
Entsprechend angetan reagiert jetzt auch Steingart. Er mustert Mona mit einem langen, wohlgefälligen Blick und erklärt: »Kaffee, warum nicht? Schließlich habe ich die Absicht, Sie um einen guten Teil Ihres Vormittags zu bringen.«
»Dafür bin ich da. Wenn Sie mit mir nach hinten in den Besprechungsraum kommen wollen, können wir ungestört reden.«
Donnerstag, 23. Juli, 11.07 Uhr,
Kriminalpolizei Westerland
»Und? Gibt’s was Neues?«
Silja Blanck steht vor der Pförtnerkabine im Eingangsbereich des Polizeigebäudes. Der Pförtner, ein korpulenter Mann in den Fünfzigern, blickt mit Verzögerung von seiner
Bild
-Zeitung auf.
»Nö. Hier steht noch gar nichts von der Lütten drin.«
»Ich meine doch nicht die Zeitung. Ich meine die Post.«
»Die habe ich schon hochgebracht. Jedenfalls die Briefe, die an Sie oder die Kollegen adressiert waren.«
»Und anonyme? Jetzt lassen Sie sich nicht jede Info einzeln aus der Nase ziehen, Mann. Sie wissen doch ganz genau, dass wir auf eine Nachricht warten. Muss ja keine Lösegeldforderung sein. Die ginge außerdem sowieso nicht an uns.«
»Was denn dann?«
Der Pförtner legt den Kopf schief und blickt der jungen Kommissarin nur mäßig interessiert ins Gesicht.
»Keine Ahnung. Irgendein Hinweis aus der Bevölkerung vielleicht. Jemand, der auf dem Nachbargrundstück was Verdächtiges beobachtet hat und seinen Namen nicht nennen will. Oder noch einer, der auf dem Parkplatz was gesehen hat. Ausnahmsweise vielleicht was wirklich Wichtiges.«
Der Pförtner verzieht keine Miene.
»In der Post war nichts. Aber Sie und der Hauptkommissar haben doch schon den ganzen Morgen die Zeugen aus List vernommen.«
»Glauben Sie vielleicht, die Zeugen haben mir den Entführer auf einem Silbertablett serviert?«
»Der Glaube, Frau Kommissarin, kommt einem hier als Erstes abhanden.«
Knisternd legt der Pförtner seine Zeitung zusammen und beginnt, ein belegtes Brot auszuwickeln. Der Geruch nach Zwiebelmettwurst und hartgekochten Eiern dringt in Sekundenschnelle durch die Scheibe der Pförtnerloge.
Silja wendet sich ab und geht die Treppe hinauf zu dem Büro, das sie mit Sven Winterberg teilt. Sie denkt an die Tatortzeugen, die doch so wenig helfen konnten. Der Kurkartenkontrolleur, zwei Strandkorbvermieter, ein Eisverkäufer und etliche Badegäste, die sich zur fraglichen Zeit in der Nähe des Strandweges aufgehalten haben. Sie alle sind ausgiebig befragt worden. Und niemand hat etwas Verdächtiges gesehen. Kein einsames Mädchen in den Dünen. Keine auffällige Person am Strand. Kein Auto, aus dem eine oder mehrere Personen gestiegen sind, die nicht wie typische Badegäste ausgesehen hätten. Nur der Kurkartenkontrolleur meinte sich erinnern zu können, dass die Eltern des verschwundenen Mädchens seinen Strandkorb auf dem Rückweg zum Parkplatz ohne ihre Tochter passiert haben. Aber das bestätigte lediglich die Aussage der Eltern.
Die ganze Fragerei dieses Vormittags hat Silja und Sven nur eines eingebracht: Die Erkenntnis, dass alle bisherigen Ermittlungen zu nichts geführt haben.
Als Silja Blanck die Tür zum Büro öffnet, sieht Winterberg von seinem Rechner auf.
»Und? Post?«
»Nichts.«
Silja lässt sich seufzend hinter ihrem Schreibtisch nieder.
»Irgendwelche anonymen Anrufe?«
»Nein, auch nicht. Leider.«
»Was ist mit der Hundestaffel?«
»Die Anforderung habe ich weitergeleitet. Allerdings kann das dauern. Die passenden Tiere scheinen noch in der Nähe von Husum nach dieser vermissten Rentnerin zu suchen.«
»Die Frau, die aus dem Seniorenheim verschwunden ist?«
»Genau.«
»Das heißt für uns?«
»Die Hunde sind erst heute Nachmittag frei. Vielleicht auch erst morgen. Bei der Hitze müssen sie sich häufiger ausruhen als üblich und können auch nicht so lange am Stück suchen.«
»Das gibt’s doch nicht! Bis dahin kann die Kleine tot sein. Wenn sie es nicht jetzt schon ist.«
Jedes von Sven Winterbergs Worten trifft Silja wie ein Schwert. Schmal, scharf, schmerzlich. Sie schließt die Augen, holt tief Luft und fragt mit leiser Stimme: »Was glaubst du, ist mit ihr passiert?«
»Meine ehrliche Meinung?«
»Ja, klar.«
»Ich denke, irgend so ein Schwein hat sie sich geschnappt. Einer dieser verdammten Kinderschänder. Ich habe ein Foto von der Kleinen gesehen, sie sieht süß aus, richtig zum Anbeißen.«
Der Blick, den Silja Blanck ihrem Kollegen zuwirft, ist nur eine Sekunde zu lang. Und die Pause, bis sie die folgenden Fragen
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