Engel sterben
durch Gesten, dass er das Telefonat übernehmen würde. Aber Silja winkt ab und stellt den Apparat auf Lautsprechen.
»Hallo, Frau Gehrke. Wie geht es Ihnen?«
»Fragen Sie nicht. Und entschuldigen Sie bitte, dass ich schon wieder anrufe, aber mir ist noch etwas eingefallen.«
Die Stimme von Ann-Kathrins Mutter klingt ruhiger und weniger rau als gestern. Vermutlich hat sie inzwischen mehr als nur zwei Beruhigungstabletten genommen.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Und bei mir schon gar nicht. Im Gegenteil. Alles, was Ihnen einfällt, kann unglaublich wichtig für uns sein.«
»Also, es geht um die Zeit unmittelbar nach Kathrins Verschwinden. Wir haben doch erst einmal selbst nach ihr gesucht. Also ich meine, bevor wir die Polizei angerufen haben.«
»Am Strand und in den Dünen, nicht wahr?«
»Genau. Und natürlich haben wir alle möglichen Leute gefragt, ob sie vielleicht unsere Tochter gesehen haben.«
»Ja, das haben Sie erzählt.«
»Und darunter war einer, der war, wie soll ich sagen, der war komisch.«
»Was meinen Sie genau damit?«
»Er hatte getrunken, ganz schön sogar, würde ich sagen. Aber das war gar nicht das Merkwürdige. Das Merkwürdige war eigentlich, dass er kein Mitleid hatte.«
Kein Mitleid, denkt Silja. Wenn du wüsstest, wie oft das vorkommt. Aber sie hält ihre Stimme im Zaum.
»Aha. Wie hat er denn reagiert?«
»Ziemlich cool. Fast schon verächtlich, sagt mein Mann. Der hat nämlich eigentlich mit ihm gesprochen. Mir war dieser Typ gleich unsympathisch. Ich bin nur dazugekommen und habe Jürgen von dem weggezogen. Ich wollte endlich die Polizei einschalten. Und das haben wir dann ja auch.«
»Das war auch gut so. Trotzdem sollten wir Ihre Beobachtung ernst nehmen. Wir würden uns gern einmal mit diesem Herrn unterhalten, aber dazu müssen wir ihn erst finden. Tourist oder Einheimischer?«
»Kein Tourist, glaube ich. Er ging ja zum Strand, als es schon Abend wurde. Er hatte auch keine Badesachen oder so was bei sich. Er hatte gar nichts bei sich. Er sah aus, als würde er nur einen Abendspaziergang machen.«
»Können Sie ihn genauer beschreiben? Oder kann Ihr Mann das?«
»Groß, bestimmt eins achtzig, wenn nicht größer. Und hager, richtig dürr war er. Volle Haare, grau, aber voll. Sie waren recht lang und ungepflegt, also nicht gekämmt oder so was. Auch die Kleidung wirkte so. Ein bisschen unsauber, wenn Sie verstehen.«
»Hört sich fast nach einem Penner an.«
»Ganz so schlimm war es nicht. Und er redete auch anders. Er redete irgendwie hochgestochen, ich weiß auch nicht, wie ich das beschreiben soll.«
»Das machen Sie aber sehr gut. Ich kann mir den Mann schon ziemlich genau vorstellen. Und er war betrunken, sagen Sie?«
»Na ja, betrunken vielleicht nicht gerade. Aber angetrunken auf jeden Fall. Und es war ja noch früh am Abend.«
»Wo genau sind Sie denn auf den Mann gestoßen?«
»Er kam aus den Dünen und ging zum Wasser, als wir zurück zum Parkplatz wollten. Da hat mein Mann ihn angesprochen.«
»Wäre es möglich, dass einer von uns noch einmal bei Ihnen vorbeikommt? Dann könnte Ihr Mann uns ganz genau erzählen, wie das Gespräch verlaufen ist.«
»Aber natürlich. Wollen Sie gleich?«
Sven hebt die Hand und deutet auf sich.
»Ich denke, mein Kollege wird das persönlich übernehmen. Oberkommissar Winterberg, er leitet die Ermittlungen. Sie kennen ihn ja. Ich gebe Sie weiter, okay?«
Sven sieht kurz auf seine Uhr. Halb vier am Nachmittag.
»Frau Gehrke, sind Sie noch dran? Bleiben Sie jetzt einfach in der Ferienwohnung. Ich bin gegen vier bei Ihnen. Bis gleich. Auf Wiedersehen.«
»Eine erste Spur.« Silja sitzt jetzt kerzengerade an ihrem Schreibtisch. »Oder was meinst du?«
»Mit etwas Glück können wir den Mann noch heute oder spätestens morgen finden. Falls er sich nicht aus dem Staub gemacht hat. Aber immerhin klingt die Beschreibung vielversprechend. Es könnte sich lohnen, die einschlägigen Lister Kneipen nach ihm abzuklappern.«
Donnerstag, 23. Juli, 20.30 Uhr,
Zöllner-Immobilien,
Kampen
Mona Hofacker schließt die Tür des Immobilienbüros und blickt auf ihre Uhr. Halb neun am Abend. Ein langer Arbeitstag liegt hinter ihr. Die Sonne steht schon tief am Himmel und leuchtet die Welt mit ihrem ebenso unwirklichen wie zauberhaften Licht aus. Auch der Empfangsraum von
Zöllner-Immobilien
badet jetzt in diesem Meer aus rosa Farbe.
Während Mona durch die abendlich summende Straße hinauf zum Parkplatz geht, lässt sie
Weitere Kostenlose Bücher